Die Geschichte der Liebe (German Edition)
grüßte er eine Gruppe Karten spielender alter Leute. Ein hutzliges Männchen in einer winzigen Badehose winkte zurück. «Sie glauben, du bist meine Freundin», verkündete Misha. Genau in dem Moment stolperte ich über meinen großen Zeh. Ich spürte, wie mir die Glut ins Gesicht schoss, und dachte, ich sei der ungeschickteste Mensch der Welt. «Bin ich aber nicht», sagte ich, obwohl ich das gar nicht sagen wollte. Ich schaute weg, tat so, als interessiere ich mich für einen Jungen, der einen aufblasbaren Hai ans Wasser zog. « Ich weiß», sagte Misha. «Aber sie wissen nicht.» Er war fünfzehn geworden, fast zehn Zentimeter gewachsen und fing an, den dunklen Flaum über der Lippe zu rasieren. Als wir ins Wasser gingen, beobachtete ich, wie sein Körper in die Wellen tauchte, und das machte mir ein Gefühl im Magen, das kein Bauchweh war, sondern etwas anderes.
«Ich wette hundert Dollar, dass sie im Telefonverzeichnis steht», sagte ich. Ich glaubte keine Spur daran, aber mir fiel nichts Besseres ein, um das Thema zu wechseln.
6. JEMANDEN SUCHEN, DEN ES HÖCHSTWAHRSCHEINLICH GAR NICHT GIBT
«Ich möchte die Nummer von Alma Mereminski», sagte ich. «M-E-R-E-M-I-N-S-K-I.» – «Welcher Bezirk?», fragte die Frau. «Ich weiß nicht», sagte ich. Es gab eine Pause, und ich hörte Schlüssel klimpern. Misha sah einem Mädchen in türkisfarbenem Bikini nach, das auf Rollerblades vorbeifuhr. Die Frau am Telefon sagte etwas. «Wie bitte?», sagte ich. «Ich sagte, ich habe eine A. Mereminski, 147 th in der Bronx», sagte sie. «Die Nummer wird angesagt.»
Ich kritzelte sie auf meine Hand. Misha kam rüber. «Und?» – «Hast du einen Quarter?», fragte ich. Es war töricht, aber nun war ich schon einmal so weit gegangen. Er zog die Augenbrauen hoch und langte in die Tasche seiner Shorts. Ich wählte die Nummer aus meiner Handfläche. Ein Mann nahm ab. «Ist Alma zu sprechen?», fragte ich. «Wer?», sagte er. «Ich suche Alma Mereminski.» – «Hier gibt es keine Alma», erklärte er. «Sie müssen sich verwählt haben. Hier ist Artie», sagte er und legte auf.
Wir liefen zurück zu Mishas Wohnung. Ich ging ins Bad, das nach dem Parfüm seiner Schwester roch und in dem dicht gedrängt die angegraute Unterwäsche seines Vaters zum Trocknen auf der Leine hing. Als ich herauskam, fand ich Misha hemdlos in seinem Zimmer, ein russisches Buch lesend. Während er duschte, wartete ich auf seinem Bett und blätterte in den kyrillischen Seiten. Ich hörte das Wasser plätschern und das Lied, das er sang, verstand aber nicht die Worte. Als ich auf seinem Kissen lag, roch es nach ihm.
7. WENN DAS SO WEITERGEHT
Als Misha klein war, fuhr seine Familie jeden Sommer auf die Datscha, und dann holte er mit seinem Vater die Netze vom Dachboden, und sie versuchten, die schwärmenden Schmetterlinge zu fangen, von denen die Luft erfüllt war. Das alte Haus war voller Porzellan von seiner Großmutter, das aus China stammte, und eingerahmten Schmetterlingen, die drei Generationen von Shklovskys in Kindertagen gefangen hatten. Mit der Zeit fielen die Schuppen ab, und wenn man barfuß durchs Haus rannte, klirrte das Geschirr, und Flügelstaub setzte sich unter die Fußsohlen.
Vor ein paar Monaten, am Abend vor Mishas fünfzehntem Geburtstag, hatte ich beschlossen, ihm eine Karte mit einem Schmetterling darauf zu basteln. Ich ging online, um ein Bild von einem russischen Schmetterling zu suchen, fand aber stattdessen einen Artikel, in dem berichtet wurde, dass die meisten Schmetterlingsarten in den letzten zwanzig Jahren stark zurückgegangen waren und ihre Aussterberate ungefähr zehntausendmal höher lag, als sie liegen sollte. Außerdem stand da, dass im Durchschnitt jeden Tag vierundsiebzig Insekten-, Pflanzen- oder Tierarten aussterben. Aufgrund dieser und anderer erschreckender Statistiken, hieß es weiter, seien die Wissenschaftler überzeugt, dass wir uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte befinden. Fast ein Viertel aller Säugetiere der Welt sei innerhalb der nächsten dreißig Jahre vom Aussterben bedroht. Ein Achtel aller Vogelarten werde es schon bald nicht mehr geben. Neunzig Prozent der größten Fischarten seien in den letzten fünfzig Jahren verschwunden.
Ich gab Massenaussterben in die Suchmaschine ein.
Das letzte Massenaussterben ereignete sich vor rund 65 Millionen Jahren, vermutlich ausgelöst durch einen Asteroideneinschlag in unseren Planeten, bei dem alle Dinosaurier und etwa die Hälfte der
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