Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Urgroßmutter sei. «Ja», sagte ich, weil ich glaubte, das könne den Vorgang beschleunigen. «Was?», sagte er. «Ur», sagte ich. Er sah mich an und kaute ein Stück Nagelhaut, dann ging er nach hinten und kam mit einem Kasten Mikrofilmen wieder. Als ich die erste Rolle einlegte, blieb der Film hängen. Ich versuchte, den Mann darauf aufmerksam zu machen, indem ich winkte und auf das verhedderte Band deutete. Er kam, seufzte und zog es durch. Nach der dritten Rolle hatte ich den Dreh heraus. Ich checkte alle fünfzehn. In diesem Kasten gab es keine Alma Mereminski, also brachte er einen anderen, und danach noch einen. Ich musste aufs Klo und zog mir auf dem Weg ein Päckchen Twinkies und eine Cola aus dem Automaten. Der Mann kam heraus und holte sich einen Riegel Snickers. Konversationshalber sagte ich: «Kennen Sie sich mit dem Überleben in der Wildnis aus?» Sein Gesicht zuckte, er schob sich die Brille hoch. «Was meinst du damit?» – «Wissen Sie zum Beispiel, dass fast die ganze arktische Vegetation essbar ist? Bis auf manche Pilze natürlich.» Er hob die Augenbrauen, und so sagte ich: «Und wussten Sie schon, dass man verhungern kann, wenn man nur Kaninchenfleisch isst? Es ist nachgewiesen, dass Leute, die versucht haben, damit zu überleben, an zu viel Kaninchenfleisch gestorben sind. Wenn man von irgendeiner mageren Fleischsorte wie Kaninchen zu viel isst, wird man, wissen Sie – egal, es kann tödlich sein.» Der Mann warf den Rest seines Snickers weg.
Wieder drinnen, brachte er einen vierten Kasten. Zwei Stunden später saß ich mit brennenden Augen immer noch da. «Kann es sein, dass sie nach 1948 gestorben ist?», fragte der Mann sichtlich verstört. Ich sagte ihm, das sei schon möglich. «Ja, warum hast du das nicht gleich gesagt! In diesem Fall wäre ihr Totenschein nicht hier.» – «Und wo wäre er?» – «In der Gesundheitsbehörde, Abteilung Zivilstandsregister», sagte er, «125 Worth Street, Zimmer 133. Da haben sie alle Todesfälle nach 48.» Großartig, dachte ich.
17. DER SCHLIMMSTE FEHLER, DEN MEINE MUTTER JE GEMACHT HAT
Als ich nach Hause kam, lag meine Mutter zusammengerollt auf der Couch und las ein Buch. «Was liest du da?», fragte ich. «Cervantes», sagte sie. «Cervantes?», fragte ich. «Den berühmtesten spanischen Schriftsteller», sagte sie und blätterte um. Ich rollte die Augen. Manchmal frage ich mich, warum sie nicht einfach einen berühmten Schriftsteller geheiratet hat statt einen in die Wildnis verliebten Ingenieur. Dann wäre nichts von alledem jemals passiert. Eben jetzt, in diesem Augenblick, säße sie wahrscheinlich mit ihrem berühmten Schriftstellergatten am gedeckten Tisch, redete mit ihm über die Pros und Contras anderer berühmter Schriftsteller und träfe gemeinsam mit ihm die schwierige Entscheidung, wer den postumen Nobelpreis am ehesten verdient hätte.
An diesem Abend wählte ich Mishas Nummer, legte aber beim ersten Klingeln auf.
18. DANN WAR DIENSTAG
Es regnete immer noch. Auf dem Weg zur U-Bahn kam ich an dem verwilderten Grundstück vorbei, wo Bird den Haufen Gerümpel, der mittlerweile auf zwei Meter Höhe angewachsen war, mit einer Plane bedeckt und an den Seiten mit Mülltüten und alten Seilen umwickelt hatte. Eine Stange ragte aus der Masse, als warte sie auf eine Flagge.
Der Limonadentisch war auch noch da, ebenso das Schild, auf dem stand FRISCHES LEMON-AID 50 CENT BITTE SELBST EINSCHENKEN (VERSTAUCHTES HANDGELENK), aber mit einem neuen Zusatz: ALLE GEWINNE FLIESSEN WOHLTÄTIGEN ZWECKEN ZU. Doch der Tisch war leer und von Bird keine Spur.
In der U-Bahn, irgendwo zwischen Carroll und Bergen, beschloss ich, Misha anzurufen und so zu tun, als sei nichts gewesen. Beim Aussteigen fand ich ein funktionierendes Münztelefon und wählte seine Nummer. Mir klopfte das Herz, als es zu klingeln begann. Seine Mutter hob ab. «Tag, Mrs. Shklovsky», sagte ich so beiläufig wie möglich. «Ist Misha da?» Ich hörte sie rufen. Die Zeit erschien mir endlos, bis er den Hörer nahm. «Hallo», sagte ich. – «Hallo.» – «Wie geht’s?» – «Gut.» – «Was machst du gerade?» – «Lesen.» – «Was?» – «Comics.» – «Rate, wo ich bin.» – «Wo?» – «Vor der Gesundheits- und Sozialbehörde.» – «Warum?» – «Ich will herausfinden, ob es Dokumente über Alma Mereminski gibt.» – «Immer noch auf der Suche», sagte Misha. «O ja», sagte ich. Eine peinliche Stille trat ein. Ich sagte: «Eigentlich wollte ich fragen, ob du
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