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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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weiter, dass die Dinge sich anders entwickeln würden, aber ich schaute nicht mehr in den Spiegel, und wenn, hielt ich das, was ich sah, für alles andere als das, was es war. Mit der Zeit dachte ich immer weniger daran. Dann fast gar nicht mehr. Und doch. Schon möglich, dass irgendetwas in mir die Hoffnung nie ganz aufgegeben hat – dass es sogar heute noch Momente gibt, in denen ich vor dem Spiegel stehe, meinen schrumpeligen pischer in der Hand, und glaube, mit meiner Schönheit, das wird schon noch werden.
    Am Morgen vor dem Zeichenkurs, dem 19. September, wachte ich aufgeregt auf. Ich zog mich an und aß meinen Müsli-Frühstücksriegel, dann ging ich aufs Klo und harrte erwartungsvoll aus. Eine halbe Stunde nichts, aber mein Optimismus ließ nicht nach. Dann produzierte ich ein paar Kötelchen. Hoffnungsvoll wartete ich auf mehr. Es ist nicht unmöglich, dass ich auf dem Klo sitzend sterben werde, die Hosenbeine um die Knöchel. Schließlich verbringe ich so viel Zeit dort, und all das wirft eine Frage auf, nämlich: Wer wird der Erste sein, der mich tot sieht?
    Ich wusch mich mit dem Schwamm und zog mich an. Der Tag schleppte sich dahin. Als ich so lange gewartet hatte, wie es ging, nahm ich einen Bus quer durch die Stadt. Die Zeitungsanzeige steckte quadratisch gefaltet in meiner Tasche, und ich holte sie mehrmals heraus, um mir die Adresse anzusehen, obwohl ich sie auswendig wusste. Ich brauchte eine Weile, um das Gebäude zu finden. Zuerst glaubte ich an einen Irrtum. Ich lief dreimal daran vorbei, bis mir klar wurde, dass es dieses sein musste. Ein altes Lagerhaus. Die Eingangstür war verrostet und wurde durch einen Pappkarton offen gehalten. Einen Moment lang erlaubte ich mir die Vorstellung, ich sei dorthin gelockt worden, um ausgeraubt und umgebracht zu werden. Ich sah meine Leiche in einer Blutlache auf dem Boden.
    Der Himmel hatte sich verdüstert, es fing an zu regnen. Ich war dankbar für den Wind und die Tropfen auf meinem Gesicht, weil ich dachte, mir bliebe nicht mehr lange Zeit zu leben. Ich stand da, unfähig, vorwärts, unfähig, zurück zu gehen. Schließlich hörte ich von drinnen Gelächter. Siehst du, du bist lächerlich, dachte ich. Ich griff nach der Klinke, doch im selben Moment schwang die Tür auf. Ein Mädchen in einem zu großen Pullover kam heraus. Sie schob die Ärmel hoch. Ihre Arme waren dünn und blass. Brauchen Sie Hilfe? , fragte sie. Ihr Pullover hatte kleine Löcher. Er reichte ihr bis zu den Knien, und darunter trug sie einen Rock. Ihre Beine waren nackt, trotz der Kälte. Ich suche einen Zeichenkurs. Da war eine Annonce in der Zeitung, vielleicht bin ich hier falsch – ich kramte in meiner Manteltasche nach der Anzeige. Sie deutete nach oben. Erster Stock, der Raum rechts. Aber es fängt erst in einer Stunde an. Ich sah an dem Gebäude hinauf. Ich dachte, vielleicht verlaufe ich mich, darum bin ich früher hergekommen. Sie zitterte. Ich zog meinen Regenmantel aus. Hier, nehmen Sie den. Sie werden noch krank. Sie zuckte die Achseln, machte aber keine Anstalten zuzugreifen. Ich hielt so lange den Arm ausgestreckt, bis klar war, dass sie es nicht tun würde.
    Es blieb nichts zu sagen. Da waren Treppen, und ich ging hoch. Mir klopfte das Herz. Ich erwog umzukehren: an dem Mädchen vorbei, die vermüllte Straße hinunter und durch die Stadt zu meiner Wohnung, wo es genug zu tun gab. Was war ich doch für ein Narr, zu glauben, sie würden sich nicht abwenden, wenn ich mein Hemd auszog, die Hose herunterließ und nackt vor ihnen stand? Zu glauben, sie würden meine von Krampfadern durchzogenen Beine betrachten, meine haarigen, hängenden knejdlach – und dann was? Anfangen zu zeichnen? Und doch. Ich kehrte nicht um.
    Ich hielt mich am Geländer fest und stieg die Treppe hoch. Ich hörte den Regen auf dem Oberlicht. Schmutzige Helligkeit drang hindurch. Am Treppenabsatz ging ein Flur ab. Links ein Raum, wo ein Mann an einer großen Leinwand malte. Der Raum rechts war leer, bis auf einen mit einer Bahn schwarzen Samtes bedeckten Kasten und einen lockeren Kreis von Klappstühlen und Staffeleien drum herum. Ich ging hinein, setzte mich und wartete.
    Nach einer halben Stunde kamen die ersten Leute. Eine Frau fragte mich, wer ich sei. Ich bin wegen der Anzeige hier , sagte ich. Ich habe angerufen und mit jemand gesprochen . Zu meiner Erleichterung schien sie zu verstehen. Sie zeigte mir, wo ich mich ausziehen konnte, eine Ecke, in der behelfsmäßig ein Vorhang angebracht war.

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