Die Geschichte der Liebe (German Edition)
macht, ihn da oben zu betrachten, in überdimensionalem Großformat. Größer als das Leben , würde ich sagen, wenn ich diesen Ausdruck je verstanden hätte. Was ist schon größer als das Leben? In der ersten Reihe zu sitzen und oben, eine Etage höher, einem schönen Mädchen ins Gesicht zu sehen, während die Vibration ihrer Stimme einem die Beine massiert, erinnert an die Größe des Lebens. Also sitze ich in der ersten Reihe. Wenn ich mit steifem Hals und nickendem Ständer herauskomme, ist es ein guter Platz gewesen. Ich bin kein geiler alter Mann. Ich bin ein Mann, der so groß sein wollte wie das Leben.
Es gibt Abschnitte in meinem Buch, die weiß ich auswendig, ich trage sie im Herzen.
Im Herzen, das sage ich nicht leicht dahin.
Mein Herz ist schwach und unzuverlässig. Wenn ich sterbe, wird es wegen des Herzens sein. Ich versuche, es so wenig wie möglich zu belasten. Wenn etwas Folgenschweres droht, lenke ich es woandershin. In meine Eingeweide beispielsweise, oder meine Lunge, die sich dann vorübergehend aufpumpen mag, mir aber nie den nächsten Atemzug versagt hat. Komme ich an einem Spiegel vorbei und erhasche einen Blick auf mich selbst oder warte auf den Bus, und hinter mir stehen ein paar Gören, die sagen: «Wer riecht hier scheiße?» – die kleinen, alltäglichen Erniedrigungen –, stecke ich solche Dinge, allgemein gesprochen, mit der Leber weg. Andere Schläge gehen woandershin. Die Bauchspeicheldrüse behalte ich all dem vor, was mich an Verlusten trifft. Es ist wahr, davon gibt es reichlich, dabei ist das Organ so klein. Aber: Man kann nur staunen, was es alles schafft; ein kurzer scharfer Schmerz, schon ist es vorbei. Manchmal stelle ich mir meine eigene Autopsie vor. Enttäuschung über mich selbst: rechte Niere. Enttäuschung anderer über mich: linke Niere. Persönliche Misserfolge: kischkeß . Das sollte sich nicht so anhören, als hätte ich eine Wissenschaft daraus gemacht. So gut ist es nicht durchdacht. Ich nehme es, wie es kommt. Mir fallen nur bestimmte Muster auf. Wenn die Uhren vorgestellt werden und es dunkelt, bevor ich dazu bereit bin, spüre ich das, warum, kann ich nicht erklären, in den Handgelenken. Und wenn ich mit steifen Fingern aufwache, habe ich höchstwahrscheinlich von meiner Kindheit geträumt. Von dem Feld, auf dem wir spielten, dem Feld, wo alles entdeckt wurde und alles möglich war. (Wir rannten so schnell, dass wir glaubten, Blut spucken zu müssen: So klingt für mich die Kindheit, keuchender Atem und über harte Erde schrappende Schuhe.) Steife Finger sind mein Traum von der Kindheit, so wie sie mir am Ende meines Lebens erscheint. Ich muss die Finger unter fließend heißes Wasser halten, dass es dampft und der Spiegel beschlägt, dazu draußen das Rascheln von Tauben. Gestern sah ich einen Mann einen Hund treten, das traf mich hinter den Augen. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, einen Ort vor Tränen? Der Schmerz des Vergessens: die Wirbelsäule. Der Schmerz des Erinnerns: die Wirbelsäule. Immer wenn mir plötzlich bewusst wird, dass meine Eltern tot sind – selbst heute noch überrascht es mich, auf der Welt zu sein, während das, woraus ich entstanden bin, aufgehört hat zu existieren –: meine Knie. Es kostet eine halbe Tube Ben-Gay und einen Riesenaufwand, sie wieder anzuwinkeln. Alles hat seine Zeit, und jedes Mal, wenn ich aufwache, um mich einen Augenblick dem falschen Glauben hinzugeben, es schlafe jemand neben mir: eine Hämorrhoide. Einsamkeit: So viel verkraftet kein einzelnes Organ.
Jeden Morgen ein wenig mehr.
Es war einmal ein Junge. Er lebte in einem Dorf, das nicht mehr existiert, in einem Haus, das nicht mehr existiert, am Rande eines Feldes, das nicht mehr existiert, wo alles entdeckt wurde und alles möglich war. Ein Stock konnte ein Schwert sein. Ein Kieselstein ein Diamant. Ein Baum ein Schloss.
Es war einmal ein Junge, der lebte in einem Haus jenseits des Feldes, gegenüber von einem Mädchen, das nicht mehr existiert. Sie dachten sich tausend Spiele aus. Sie war die Königin und er der König. Im Herbstlicht schimmerte ihr Haar wie eine Krone. Sie sammelten die Welt, eine kleine Hand voll um die andere. Wenn es dunkelte, trennten sie sich mit Blättern in den Haaren.
Es war einmal ein Junge, der liebte ein Mädchen, und ihr Lachen war eine Frage, mit deren Beantwortung er sein ganzes Leben verbringen wollte. Als sie zehn waren, fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Als sie elf waren, küsste er sie zum
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