Die Geschichte der Liebe (German Edition)
brachte ihr etwas zu essen und stellte einen Blumenstrauß in eine Vase neben ihrem Bett. Als er merkte, dass sie schwanger war, rief er eine Hebamme. Ein kleiner Junge wurde geboren. Eines Tages setzte sich das Mädchen im Bett auf und sah den Sohn ihres Chefs das Baby in einem Sonnenstrahl wiegen. Ein paar Monate später willigte sie ein, ihn zu heiraten. Zwei Jahre später bekam sie noch ein Kind.
Der Mann, der unsichtbar geworden war, stand in ihrem Wohnzimmer und hörte sich das alles an. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er hatte sich so verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, und jetzt wollte etwas in ihm ein hartes, kaltes Lachen lachen. Sie gab ihm ein kleines Foto von dem Jungen, der inzwischen fünf war. Ihre Hand zitterte. Sie sagte: Du hast nicht mehr geschrieben. Ich dachte, du wärst tot. Er blickte auf das Foto von dem Jungen, der heranwachsen und aussehen würde wie er und der, obwohl der Mann es noch nicht wusste, aufs College gehen, sich verlieben und, von der Liebe verlassen, ein berühmter Schriftsteller werden würde. Wie heißt er?, fragte er. Sie sagte: Ich habe ihn Isaac genannt. Lange standen sie schweigend da, während er auf das Bild starrte. Schließlich brachte er drei Wörter heraus: Komm mit mir. Von der Straße drang Kindergeschrei herauf. Sie kniff die Augen fest zusammen. Komm mit mir , sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Tränen rollten ihr übers Gesicht. Dreimal fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. Ich kann nicht , sagte sie. Sie senkte den Blick zu Boden. Bitte , sagte sie. Also tat er das Schwerste, was er je in seinem Leben getan hatte: Er nahm seinen Hut und ging.
Und wenn der Mann, der einmal ein Junge gewesen war und versprochen hatte, er werde sich, solange er lebe, nie in ein anderes Mädchen verlieben, sein Versprechen hielt, so nicht, weil er standhaft oder gar treu gewesen wäre. Er konnte einfach nicht anders. Und nachdem er sich dreieinhalb Jahre versteckt hatte, schien es nicht undenkbar, auch seine Liebe zu einem Sohn zu verstecken, der nicht wusste, dass es ihn gab. Zumindest nicht, wenn die einzige Frau, die er je lieben würde, es von ihm verlangte. Und letztlich, was bedeutet es schon für einen Mann, der ohnehin gänzlich verschwunden ist, noch etwas zu verbergen?
Am Abend bevor ich für den Zeichenkurs Modell stehen sollte, war ich nervös und aufgeregt. Ich knöpfte mein Hemd auf und zog es aus. Dann schnallte ich die Hose auf und zog sie aus. Mein Unterhemd. Die Unterhose. Mit Socken an den Füßen stand ich vor dem Spiegel im Flur. Ich hörte Kindergeschrei vom Spielplatz auf der anderen Straßenseite. Die Strippe der Glühbirne hing über mir, aber ich zog nicht daran. Ich stand da und betrachtete mich im schwindenden Licht. Ich habe mich nie für gut aussehend gehalten.
Meine Mutter und meine Tanten hatten mir als Kind immer gesagt, wenn ich größer sei, würde ich ein hübscher Junge werden. Es war mir damals schon klar, dass ich keinen sehenswerten Anblick bot, aber ich glaubte, ein gewisses Maß an Schönheit würde sich eines Tages schon einstellen. Ich weiß nicht, was ich mir ausmalte: dass meine Ohren, die in einem unwürdigen Winkel abstanden, sich anlegen, dass mein Kopf ihnen irgendwie entgegenwachsen würde? Dass mein Haar, ungefähr so borstig wie eine Klobürste, sich mit der Zeit von selber glätten und im Licht glänzen würde? Dass sich mein so wenig versprechendes Gesicht – schwer hängende Froschlider, dazu schmale Lippen – in etwas nicht Beklagenswertes verwandeln würde? Jahrelang wachte ich morgens auf und ging hoffnungsvoll zum Spiegel. Auch als ich dafür schon zu alt war, hoffte ich noch. Das Älterwerden brachte keine Besserung. Wenn überhaupt, ging es bergab, als ich in die Pubertät kam und das Nette, Reizende, das alle Kinder haben, mich im Stich ließ. Zur Zeit meiner Bar-Mizwa wurde ich von einer Akneplage heimgesucht, die vier Jahre dauerte. Aber ich hoffte noch immer. Kaum wich die Akne, wich auch mein Haaransatz, als suche er Abstand von den peinlichen Gesichtszügen. Meine Ohren, geschmeichelt durch die neue Aufmerksamkeit, die sie nun genossen, schienen weiter ins Rampenlicht zu drängen. Die Augenlider wurden schlaff – einiges an Muskelspannung ging in den Kampf der Ohren –, und die Brauen begannen ein Eigenleben zu führen, indem sie vorübergehend alles erreichten, was man ihnen wünschen konnte, bald aber urwüchsig jeglichen Wunsch übertrafen. Jahrelang hoffte ich
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