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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
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noch etwas erwartete: Denn damit mir in der zauberhaftesten Einsamkeit nichts zu wünschen übrig bliebe, müsste Manon bei mir sein.
    Tiberge hielt indessen im Sinne des Vorhabens, zu dem er mich inspiriert hatte, an seinen häufigen Besuchen fest, und als sich eine Gelegenheit dazu bot, setzte ich meinen Vater von dem Plan in Kenntnis. Er bekundete, dass er immer den Vorsatz gehabt habe, seinen Kindern hinsichtlich ihrer Lebensumstände freie Wahl zu lassen, und dass er sich, welchen Weg ich auch immer einschlagen wolle, lediglich das Recht vorbehalte, mir mit seinen Ratschlägen zur Seite zu stehen. Diese Ratschläge waren sehr vernünftig und weniger darauf gerichtet, mir mein Projekt zu verleiden als vielmehr dafür zu sorgen, dass ich es gut vorbereitet anging.
    Der Beginn des Studienjahres rückte näher. Ich kam mit Tiberge überein, dass wir gemeinsam das Seminar von Saint-Sulpice besuchen würden, er, um sein Theologiestudium abzuschließen, und ich, um meines zu beginnen. Seine Verdienste, die dem Bischof der Diözese bekannt waren, führten dazu, dass ihm von dieser Seite noch vor unserer Abreise ein ansehnliches Stipendium gewährt wurde.
    Mein Vater glaubte mich von meiner Leidenschaft ganz und gar geheilt und ließ mich ungehindert abreisen. Wir gelangten nach Paris. Das kirchliche Gewand trat an die Stelle des Malteserkreuzes, und anstelle des Titels «Chevalier» führte ich nun den des «Abbé» des Grieux.
    Ich widmete mich meinen Studien mit solchem Eifer, dass ich in wenigen Monaten außerordentliche Fortschritte machte. Ich nutzte dazu einen Teil der Nacht und verschwendete keinen Augenblick des Tages. Mein Ruf war derart glanzvoll, dass man mich bereits zu den Würden beglückwünschte, die zu erlangen ich nicht verfehlen könne, und ohne dass ich darum nachgesucht hätte, wurde mein Name auf die Liste der Stipendiaten gesetzt. Auch an Frömmigkeit ließ ich es nicht fehlen; alle Andachtsübungen verrichtete ich mich Feuereifer. Tiberge war entzückt von dem, was er als sein Werk betrachtete, und ich sah mehrmals, wie er Tränen vergoss, denn er beglückwünschte sich wohl zu dem, was er meine Bekehrung nannte.
    Dass menschliche Entschlüsse Wandlungen unterworfen sind, hat mich niemals verwundert; die eine Leidenschaft bringt sie hervor, eine andere Leidenschaft kann sie zunichte machen; doch wenn ich an die Heiligkeit der Vorsätze denke, die mich nach Saint-Sulpice gebracht hatten, und an die innere Freude, die mich der Himmel bei ihrer Befolgung empfinden ließ, erschrecke ich darüber, wie leicht ich mit ihnen habe brechen können. Wenn es denn zutrifft, dass der himmlische Beistand zu jeder Zeit von einer Macht ist, die jener der Leidenschaften gleicht, dann möge man mir doch erklären, durch welchen verhängnisvollen Einfluss man mit einem Mal von seiner Pflichterfüllung fortgerissen wird, ohne den geringsten Widerstand leisten zu können und ohne auch nur die geringste Reue zu empfinden. Ich glaubte, von den Anfälligkeiten für die Liebe ganz und gar befreit zu sein. Ich vermeinte, die Lektüre einer Seite des heiligen Augustinus oder eine Viertelstunde christlicher Meditation sei allen Sinnenfreuden vorzuziehen, jene nicht ausgenommen, die Manon mir hätte bieten können. Indessen stieß mich ein einziger unglückseliger Augenblick zurück in jenen Abgrund, und mein Sturz war umso heilloser, als ich, unversehens zurückgeworfen in die Niederungen, denen ich doch schon entronnen war, durch die neuerliche Ungebührlichkeit, der ich verfiel, umso weiter in die Tiefe hinabsank.
    Ich hatte nahezu ein Jahr in Paris verbracht, ohne mich über Manon kundig zu machen. Anfangs war es mir sehr schwergefallen, mir diese Gewalt anzutun, doch Tiberges allgegenwärtige Ratschläge und meine eigenen Überlegungen hatten den Sieg davongetragen. Die letzten Monate waren in solcher Ruhe verflossen, dass ich mich im Begriff glaubte, jenes liebreizende und treulose Geschöpf auf ewig zu vergessen. Es kam die Zeit, da ich an der Theologischen Fakultät eine öffentliche Probe meiner Kenntnisse ablegen sollte. Ich ließ einige bedeutende Persönlichkeiten bitten, mich mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Mein Name machte in allen Vierteln von Paris die Runde: Er kam sogar meiner Ungetreuen zu Ohren. In Verbindung mit dem Titel eines Abbé konnte sie ihn nicht mit Gewissheit erkennen; doch ein Rest von Neugier oder in Anbetracht ihres Verrats vielleicht auch eine gewisse Reue (ich habe nie klären können,

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