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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
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entdecken. Des Himmels Hilfe sprang meinen Überlegungen bei. Mir wurde eine Verachtung ohnegleichen für die Welt eingegeben. Ahnen Sie, was mich zurückhält», setzte er hinzu, «und was mich hindert, der Welt ganz zu entsagen? Es ist allein die innige Freundschaft, die ich für Sie empfinde. Ich kenne die Vortrefflichkeit Ihres Herzens und Ihres Geistes; es gibt nichts Gutes, zu dem sie nicht fähig wäre. Das Gift der Lust hat Sie vom Wege abgebracht. Welch ein Verlust für die Tugend! Ihre Flucht aus Amiens hat mir so viel Schmerz bereitet, dass ich seither keinen Augenblick der Gelassenheit erlebt habe. Urteilen Sie selbst anhand der Schritte, zu denen mein Schmerz mich trieb.»
    Und er erzählte mir, wie er, nachdem er bemerkt habe, dass ich ihn hintergangen hatte und mit meiner Geliebten abgereist war, ein Pferd bestiegen habe, um mir zu folgen; doch da ich vier oder fünf Stunden Vorsprung vor ihm hatte, sei es ihm unmöglich gewesen, mich einzuholen; nichtsdestoweniger sei er eine halbe Stunde nach meiner Abfahrt in Saint-Denis angelangt; er habe, da er ganz sicher annahm, dass ich in Paris geblieben sei, sechs Wochen mit der vergeblichen Suche nach mir verbracht; er habe alle Orte aufgesucht, an denen er glaubte mich finden zu können, und eines Tages habe er meine Geliebte in der «Comédie» 10 erkannt; er habe sie dort in so prachtvollem Staat gesehen, dass er vermutet habe, sie verdanke diesen Reichtum einem neuen Liebhaber; er sei ihrer Kutsche bis zu ihrem Haus gefolgt und habe von einem Bediensteten erfahren, dass sie von Monsieur B… ausgehalten werde.
    «Damit ließ ich es nicht genug sein», fuhr er fort. «Ich kehrte am folgenden Tag dorthin zurück, um von ihr selbst zu erfahren, was aus Ihnen geworden ist; sie ließ mich brüsk stehen, als sie mich von Ihnen sprechen hörte, und ich war gezwungen, Paris ohne weitere Aufklärung zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Dort erfuhr ich von Ihrem Abenteuer und der äußersten Verzweiflung, in die es Sie gestürzt hat; doch ich wollte Sie nicht aufsuchen, ohne gewiss zu sein, dass ich Sie in größerer Gelassenheit antreffe.»
    «Sie haben also Manon gesehen», antwortete ich ihm seufzend. «Ach! Da sind Sie glücklicher als ich, der ich dazu verdammt bin, sie niemals wiederzusehen.»
    Er tadelte mich für diesen Seufzer, der ja deutlich mache, dass ich immer noch eine Schwäche für sie hätte. Dann sprach er so wohltuend von der Vortrefflichkeit meines Charakters und meiner Neigungen, dass er bereits bei diesem ersten Besuch ein starkes Verlangen in mir erweckte, gleich ihm allen weltlichen Genüssen zu entsagen und in den geistlichen Stand zu treten.
    Dieser Gedanke nahm mich so sehr ein, dass ich mich, wann immer ich allein war, mit nichts anderem mehr beschäftigte. Ich erinnerte mich an die Ausführungen Seiner Exzellenz des Bischofs von Amiens, der mir denselben Rat gegeben hatte, und die günstige Meinung, die er sich über meine Aussichten gebildet hatte, sollte ich mich für diesen Weg entscheiden. Auch Frömmigkeit spielte in meinen Überlegungen eine Rolle. «Ich werde ein sittsames und christliches Leben führen», sagte ich mir. «Ich werde mich meinen Studien und der Religion widmen, und die werden es mir nicht erlauben, an die gefährlichen Freuden der Liebe zu denken. Ich werde gering schätzen, was die große Menge bewundert; und da ich so recht fühle, dass mein Herz nur begehren wird, was es hochzuschätzen vermag, werde ich ebenso wenig Anfechtungen wie Begierden haben.»
    In diesem Sinne legte ich mir eine Philosophie zurecht, nach der ich in Zukunft ein friedvolles und zurückgezogenes Leben führen wollte. Ein abgelegenes Haus mit einem Wäldchen und einem Bach mit frischem Wasser im hinteren Teil des Gartens gehörte dazu, eine Bibliothek vortrefflicher Bücher, einige tugendhafte Freunde von gesundem Menschenverstand und ordentliche, wenn auch einfache und bescheidene Mahlzeiten. Ich fügte noch den Briefwechsel mit einem Freund hinzu, der sich in Paris aufhalten und mich über das öffentliche Leben auf dem Laufenden halten würde, weniger um meine Neugier zu befriedigen als um mir mit dem närrischen Treiben der Menschen Abwechslung zu verschaffen. «Wäre das nicht genug für mein Glück?», setzte ich hinzu. «Wären damit nicht all meine Ansprüche erfüllt?»
    Gewiss entsprach dieses Projekt in höchstem Maß meinen Neigungen. Doch ich spürte, dass mein Herz trotz eines so vernunftgemäßen Vorhabens am Ende

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