Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
welche der beiden Empfindungen es war) erweckte ihr Interesse an einem Namen, der dem meinen so ähnlich war; sie kam mit einigen anderen Damen in die Sorbonne. Sie war zugegen, als ich meine öffentliche Probe ablegte, und hatte zweifellos wenig Mühe, mich wiederzuerkennen.
Ich hatte von diesem Besuch nicht die geringste Kenntnis. Bekanntlich gibt es an diesen Orten abgesonderte Logen für die Damen, in denen sie hinter einer Blende den Blicken entzogen sind. Ruhmbedeckt und mit Komplimenten überhäuft kehrte ich nach Saint-Sulpice zurück. Es war sechs Uhr abends. Kurz nach meiner Ankunft meldete man mir, dass eine Dame mich zu sehen wünsche. Ich begab mich auf der Stelle zum Besuchszimmer. Gott! Welch eine Überraschung! Die Dame war Manon. Sie war es wirklich, doch noch liebenswerter und strahlender, als ich sie je gesehen hatte. Sie stand jetzt in ihrem achtzehnten Lebensjahr. Ihre Reize übertrafen jede Beschreibung. Ihr Antlitz war so fein, so lieblich, so gewinnend, es war das Antlitz der Liebe selbst. Ihre ganze Gestalt erschien mir als ein Zauber.
Der Anblick verschlug mir die Sprache, und da ich nicht zu erraten vermochte, was die Absicht ihres Besuches war, wartete ich zitternd und gesenkten Blickes darauf, dass sie sich erklärte. Eine Weile war sie ebenso befangen wie ich, doch als sie sah, dass mein Schweigen andauerte, hob sie die Hand vor die Augen, um ihre Tränen zu verbergen. Mit zaghafter Stimme gestand sie mir, sie bekenne, dass ihre Untreue meinen Hass verdiene, doch wenn es denn wahr sei, dass ich je so etwas wie Zärtlichkeit für sie empfunden habe, dann sei es ebenfalls recht hart von mir gewesen, dass ich zwei Jahre hätte vergehen lassen, ohne mir die Mühe zu machen, mich nach ihrem Geschick zu erkundigen, und es sei umso härter, dass ich sie in dem Zustand, in den meine Gegenwart sie versetze, zu sehen vermöchte, ohne ein Wort an sie zu richten. Ich hörte sie an, und der Aufruhr in meiner Seele war nicht in Worte zu fassen.
Sie ließ sich nieder. Ich blieb stehen, halb seitwärts gewandt, denn ich wagte nicht, sie direkt anzublicken. Mehrmals hob ich zu einer Antwort an, die zu vollenden ich dann nicht die Kraft hatte. Mit größter Anstrengung stieß ich endlich gequält hervor: «Treulose Manon! Ach, Treulose! Treulose!»
Sie wiederholte unter heißen Tränen, sie gedenke nicht, ihre Treulosigkeit zu rechtfertigen. «Was gedenken Sie dann zu tun?», rief ich.
«Ich gedenke zu sterben», antwortete sie, «wenn Sie mir Ihr Herz nicht wieder schenken, ohne das ich nicht leben kann.»
«Dann verlange doch mein Leben, Ungetreue!», antwortete ich und vergoss nun meinerseits Tränen, die zurückzuhalten ich mich vergebens mühte. «Verlange mein Leben, ist es doch das Einzige, was dir zu opfern mir übrig bleibt; denn mein Herz gehörte ja immer noch dir.»
Kaum hatte ich diese letzten Worte herausgebracht, als Manon sich ungestüm erhob und mich umarmte. Sie überschüttete mich mit tausend leidenschaftlichen Liebkosungen. Sie nannte mich bei all den Namen, die die Liebe erfindet, um ihre lebhaftesten Zärtlichkeiten auszudrücken. Ich ging zunächst nur wehmütig darauf ein. Ach, welch ein Umschwung von dem ruhigen Gemütszustand, in dem ich mich befunden hatte, zu den stürmischen Regungen, die ich wieder erwachen spürte! Sie machten mir Angst. Ich erschauerte, wie es geschieht, wenn man sich bei Nacht in einer entlegenen Gegend findet: Man glaubt sich in eine neue Ordnung der Dinge versetzt; man wird von einem geheimen Schrecken gepackt, von dem man sich erst erholt, wenn man die Umgebung einer ausführlichen Betrachtung unterzogen hat.
Wir setzten uns dicht nebeneinander. Ich nahm ihre Hände in die meinen. «Ach, Manon!», sagte ich und sah sie mit traurigen Augen an, «ich hätte diesen schnöden Verrat nicht erwartet, mit dem Sie mir meine Liebe gelohnt haben. Es war Ihnen ein Leichtes, ein Herz zu betrügen, über das Sie uneingeschränkt herrschten und das seine ganz Glückseligkeit darauf verwandte, Ihnen Freude zu bereiten und Ihnen zu gehorchen. Sagen Sie mir nun, ob Sie ein anderes gefunden haben, das so zärtlich und ergeben gewesen wäre. Nein, nein, die Natur erschafft wohl kaum eines von gleicher Art wie das meine. Sagen Sie mir wenigstens, ob es Ihnen zuweilen gefehlt hat. Wie soll ich der neu erwachten Güte trauen, die Sie heute herführt, um es zu trösten? Ich sehe nur allzu gut, dass Sie bezaubernder sind denn je; doch im Namen all der Schmerzen, die
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