Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
worden, die gleichermaßen funktioniert. Denn nicht nur gilt Prévosts Roman als der erste der französischen Literaturgeschichte, in dem überhaupt von Geld die Rede ist, sondern Geld, Geldeswert und die Frage sozialer Geltung stehen als mindestens gleichberechtigte Themen neben der «Liebe», die hier der Anführungszeichen bedarf, weil sie stets von materiellen Erwägungen kontaminiert ist: Manon braucht Luxus, um ihre zweifellos starken Empfindungen für des Grieux in angemessenem Rahmen leben zu können. Der Chevalier wiederum, gut erzogen und von Haus aus reinen Herzens, macht sich, trotz der Redlichkeit seiner Gesinnung und der Glut seiner Leidenschaft, Manons Denk- und Handlungsweise und die ihres geschäftstüchtigen Bruders sehr rasch zu eigen. Sobald aber, dank dubioser Methoden, der Wohlstand einigermaßen gesichert scheint, wird das Paar von der Dienerschaft bestohlen, was neuerliche Geldbeschaffung erfordert, Liebesverrat und immer tiefere kriminelle Verstrickung nach sich zieht.
Der Abbé gilt als Wegbereiter des empfindsamen Romans, aber auch als Vorhut des naturalistischen kann man ihn in Anspruch nehmen. Sein Schaffen fällt in die Übergangszeit zwischen dem Tod Louis XIV . und der Französischen Revolution, die Periode, in der das Ancien Régime von innen her bröckelt, tradierte Wertbegriffe sich auflösen, gesellschaftliche Barrieren ihre ordnende Funktion verlieren, der Merkantilismus an Einfluss gewinnt und der dritte, rechtlose Stand seine Ansprüche geltend macht. Diese Situation und ihre Auswirkungen auf das Pariser Großstadtleben reflektiert Prévosts Erzählung mit einer Klarheit und Sachlichkeit, die alle Konventionen höfisch-geistreicher Verbrämung hinter sich lässt, bis hin zu unschönen Details wie Halbwelt-Usancen, Zuhälterpraktiken, Haftbedingungen und Deportation in die Kolonien. Vor den Gefährliche Liebschaften von Choderlos de Laclos, die freilich ganz in Adelskreisen spielen (und die laut André Gide in der Dreierspitze der französischen Romanliteratur zwischen Stendhals Kartause von Parma und eben Manon Lescaut rangieren), ist kein vergleichbar realitätsgesättigtes Werk bekannt geworden.
Der kühl-analytische Blick des Abbé trifft und seziert aber nicht nur gesellschaftliche Zustände, sondern gleichermaßen die Beziehung zwischen dem jungen Chevalier des Grieux und der blutjungen Manon Lescaut, diese unter romantischen Vorzeichen so schwärmerisch idealisierte Amour fou. Die sogenannte Liebe ist hier nicht länger ein poetisch auszuschmückender Glückszustand, sondern ein Verhängnis, eine Sucht, die immer heillosere Zwänge und Abhängigkeiten nach sich zieht. Nur eine verklärende, von neoromantischer Sehnsucht nach Verzauberung gelenkte Lektüre vermag heute noch zu ignorieren, wie kalt der Erzähler, jener weltläufige Mann von hohem Stand , der dem Chevalier des Grieux auf Reisen begegnet, dessen Beichte protokolliert, wie er die Unbelehrbarkeit des jungen Mannes angesichts der scheinnaiven, hütchenspielerhaften Verdrehungs- und Irreführungstechnik der schönen Manon mit einer aus Mitleid und quasi-wissenschaftlichem Interesse gemischten Empfindung zur Kenntnis nimmt. Man beachte ferner, dass der Jüngling nach Manons traurigem Ende in Amerika innerhalb von Monaten seine Seelenruhe wiederfindet und ohne dauerhafte Blessuren aus der Affäre hervorgeht. Der nachwirkende Rationalismus des grand siècle hindert ihn daran, sich zu erschießen wie Goethes Sturm-und-Drang-Held Werther, der in der Literaturgeschichte – nur teilweise zu Recht – als sein Nachfolger aufgebaut wurde.
Mit seiner Erzähltechnik, der Icherzählung im Rahmen einer zweiten, wie sie später unter anderem von Prosper Mérimée in Carmen angewandt wurde, war Prévost seiner Zeit voraus. Sein Stil ist, anders als in seinen übrigen Werken, von schlichter Eleganz und äußerster Ökonomie, kommt mit wenigen Figuren und ohne das Beiwerk von Reflexion und Räsonnement, von historischem Exkurs oder Landschaftsmalerei und ohne detaillierte Milieu- und Personenschilderung aus. Er beschränkt sich darauf, rasch wechselnde Schauplätze und Ereignisse knapp zu skizzieren, und ruft damit lebendige, plastische Bilder vor das innere Auge. Zugleich lässt er sein Personal wie auf einer Bühne agieren und legt die Dramatik in den Dialog. Erstaunlich ist, dass die lebensechte Darstellung der Manon-Gestalt immer wieder gerühmt wurde, obwohl ihr Äußeres nirgends beschrieben wird und wir nicht einmal
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