Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
bei ihrem ersten
Auftritt
so lebensähnlich ist und schon so menschen-
gleich?
Man meint, man kenne sie und sähe ein
Porträt…
Manon, fremdart’ge Sphinx! Manon,
echte Sirene!
Dreifach weibliches Herz! Kleopatra im
Reifrock!
Was man auch sagt und tut, und wenn
Napoleon selbst
Dein Buch geschrieben hält für Zofe und
Portier,
du bist nicht minder wahr; der Venus
Schöpfer selbst
halte ich nicht für wert, nur deinen Fuß zu
küssen…
Wie glaube ich an dich! Wie lieb ich dich
voll Hass!
Welche Verkommenheit! Welch unerhörte
Gier
nach Gold und nach Vergnügen! Jedes Wort
von dir
enthält das Leben ganz! Du Unbesonnene!
Schon morgen würd’ ich dich, wenn du
noch lebtest,
lieben!
Die Widersprüche, die Manons Wesensart kennzeichnen, sind hier zusammengefasst – oder handelt es sich in Wahrheit um die Antagonismen einer erotischen Fantasie, die in der Romantik ihre Gestalt gewann und bis heute fortwirkt? Geheimnisvoll vertraut und doch exotisch fremd soll das Objekt der Begierde sein, anbetungswürdig und verderbt, lebenserfahren und unbesonnen, hassens- und liebenswert zugleich. Die Konsequenzen, die sich daraus für den Liebhaber ergeben, hat Alexandre Dumas fils als Gefühlsideal seiner Epoche formuliert: «Wer nicht wie des Grieux liebt, das heißt gegebenenfalls bis zum Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, dass er liebe.» Nicht nur spielt in seinem Roman Die Kameliendame das Buch von Prévost eine Schlüsselrolle, die Geschichte ist in vielen Zügen sogar eine sentimentale Variante von Manon Lescaut . Der Icherzähler, der das Büchlein aus Marguerite Gautiers Nachlass ersteigert, empfindet denn auch Rührung und Mitleid beim Vergleich der beiden «armen, verirrten Mädchen».
Guy de Maupassant nimmt einige Jahrzehnte später schon eine merklich distanziertere Haltung ein, was aber erst auf den zweiten Blick offenbar wird. Aus seinem Vorwort zur illustrierten Manon -Prachtausgabe aus dem Jahr 1885 wird oft zitiert, doch um seine gemischten Gefühle in den richtigen Kontext zu stellen, muss man den ganzen Text lesen. Zunächst verwahrt er sich mit unverhohlenem Chauvinismus gegen die Zumutung, Frauen könnten auf Erden noch andere Rollen ausfüllen als die der Mutter und der Geliebten, die «ganz unterschiedlicher Art, doch gleichermaßen bezaubernd» seien. Wobei Letztere, in der Variante der «grande courtisane» , durchaus auch geistige Qualitäten zum Zwecke der Verführung einsetzen dürfe.
Sodann zählt Maupassant die künstlerischen Typisierungen seines Frauenideals auf, als da sind die Skulptur der Venus von Milo, das Porträt der Mona Lisa – und die Romanfigur der Manon Lescaut. Mehr als alle anderen sei sie «Frau in des Wortes wahrer Bedeutung, auf naive Weise durchtrieben, hinterlistig, zärtlich, verwirrend, geistreich, furchteinflößend und liebreizend», eine «hinreißende Gestalt voll instinktiver Perfidie», in der sich alles zu verkörpern scheine, «was das weibliche Wesen an Liebenswürdigkeit, Verführungskraft und Verruchtheit aufzubieten vermag». Sie sei die vollkommene Frau, «wie sie stets war, wie sie ist und wie sie immer sein wird», die Eva des verlorenen Paradieses, die ewige, listenreiche und zugleich naive Versucherin, die zwischen Gut und Böse nicht unterscheidet und «einzig durch die Macht ihrer Lippen und ihrer Augen» starke wie schwache Männer – den Mann schlechthin – in ihren Bann zieht. Und da ist sie wieder, diese merkwürdige Polarität: «Wie aufrichtig sie ist, diese Bettlerin, wie offenherzig in ihrer Gerissenheit, wie freimütig in ihren Schandtaten.»
Voller Bewunderung für den Autor Prévost zitiert Maupassant jene Äußerung des Chevaliers, die besagt, kein Mädchen sei weniger am Geld interessiert gewesen als Manon, und doch habe sie keinen Augenblick mit der Befürchtung leben können, nicht genug davon zu haben. Darin, meint der offenbar einschlägig erfahrene Ironiker Maupassant, sei mehr Einsicht in das Wesen der Frau enthalten als in den meisten umfangreichen Romanwerken, die das Weibliche psychologisch ergründen wollten. Dann wird er plötzlich sehr uncharmant, nennt Manon eine «Liebesbestie», der es von Grund auf an Feingefühl, vor allem aber an Schamgefühl mangele. Und schließlich lässt er sich, unvermittelt klarsichtig, zu dem Nebensatz hinreißen, dass «das Geld und die Liebe im Grunde ein und dasselbe für sie waren».
Hier ist die romantische Rezeption von der realistischen überholt
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