Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
entbunden, als Hauskaplan bei dem kunstsinnigen und toleranten Prinzen von Conti unterkam. Dort verfertigte er noch zahlreiche belletristische und historische Werke und betätigte sich als Übersetzer aus dem Englischen, unter anderem der Romane Samuel Richardsons. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er überwiegend in der Umgebung von Paris. Und mutmaßlich ist das Zeugnis von Jean-Jacques Rousseau, der häufig mit ihm verkehrte und ihn in seinen Confessions einen «sehr liebenswürdigen und sehr schlichten Herrn» nannte, glaubwürdiger als das des Bühnenautors und Theaterkomponisten Charles Collé, der in seinem Journal historique schrieb: «Der Abbé Prévost ist ein armer Kerl, der stets in der wüstesten Liederlichkeit gelebt hat. Morgens im Bett sudelte er ein paar Seiten hin, links neben sich ein Mädchen, rechts ein Tintenfaß, und schickte das Geschriebene an seinen Drucker, der ihm für den Bogen sofort ein Goldstück gab; den Rest des Tages über trank er; so hat er für gewöhnlich gelebt.»
Vielleicht treffen aber auch beide Darstellungen zu, denn wenn wir eines über ihn wissen, dann dies: Er war ein Mann der Ambivalenzen und Ambiguitäten. Was für ihn als Person gilt, das gilt nicht minder für sein kleines Meisterwerk, die Geschichte der Manon Lescaut – und ist zweifellos das Geheimnis ihrer literarischen Unsterblichkeit, denn es folgte daraus eine Rezeptionshistorie, in der jede Epoche die ihr gemäßen Eigenschaften in die Figur hineinlesen konnte.
Während eines abermaligen England-Aufenthaltes hatte Prévost die Zeitschrift Le Pour et le Contre (Das Für und Wider) gegründet. Darin rezensierte er 1734 ungeniert sein eigenes Erfolgsbuch und legte dabei ein Resümee vor, das bis heute als Einführung in den Text unübertroffen ist: «Mit viel Vergnügen hat das Publikum den letzten Band der Memoiren eines Mannes von hohem Stand gelesen, der die Abenteuer des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut enthält. Man sieht darin einen jungen Mann von glänzenden und höchst liebenswerten Eigenschaften. Verleitet durch eine wilde Leidenschaft zu einem Mädchen, das ihm gefällt, zieht er ein Leben der Libertinage und des Vagabundierens allen Annehmlichkeiten vor, die seine Talente und seine Stellung ihm verheißen könnten; ein unglücklicher Sklave der Liebe, sieht er sein Unglück voraus, ohne die Kraft zu haben, es zu vermeiden, fühlt es lebhaft, erleidet es und lässt alle Mittel aus, die ihm einen glücklichen Zustand verschaffen könnten, letzten Endes ein Mensch zugleich voller Laster und Tugenden, voll guter Absichten und schlechter Handlungen, liebenswert durch seine Gefühle, verächtlich durch seine Taten. Dies ist ein erstaunlicher Charakter. Der von Manon Lescaut ist es noch mehr. Sie kennt die Tugend, sie schätzt sie sogar hoch und begeht doch die unwürdigsten Handlungen. Sie liebt den Chevalier des Grieux mit äußerster Leidenschaft, doch ihre Begierde nach einem Leben voll Überfluss und Glanz lässt sie ihre Gefühle für den Chevalier verraten, dem sie einen reichen Finanzmann vorzieht. Wie viel Kunst braucht es, um beim Leser für sie Anteilnahme und sogar Mitleid zu wecken, angesichts des düsteren Unglücks, das diesem verderbten Mädchen zustößt. Trotz ihres ausschweifenden Lebens bedauert man sie beide, denn man sieht, dass ihre Zuchtlosigkeit aus ihrer Schwäche und der Glut ihrer Leidenschaft entspringt und dass sie überdies selber ihren Lebenswandel verurteilt und ihre Frevelhaftigkeit zugegeben hätten. Auf diese Weise stellt der Autor das Laster zwar dar, lehrt es aber doch nicht.»
Er lehrt, wohlgemerkt, ebenso wenig die moralisierende Attitüde, die diese Lasterhaftigkeit geißelt und ihr ein tugendhaftes Lebensmodell entgegenhält – auch wenn die Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von dieser Vorstellung geprägt war: Sogar Napoleon soll das Werk, das 1733 noch aufgrund eines Parlamentsbeschlusses beschlagnahmt und öffentlich verbrannt worden war, als Erbauungs- und Besserungslektüre für Dienstboten eingestuft haben. Die Romantiker nahmen dann, ihrer Sache ebenso sicher, die entgegengesetzte Perspektive ein: Sie glaubten, hier die überwältigende, alle moralischen Bedenken hinwegfegende Leidenschaft glorifiziert zu sehen, die magisch-dämonische Faszination der Femme fatale. Alfred de Musset bezog sich direkt auf Napoleons Irrtum, als er in seine Dichtung Namouna die berühmten Verse an Manon Lescaut einbaute:
Warum Manon wohl nur
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