Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pasternak
Vom Netzwerk:
Ausrufen bewarfen, minutenlang den würdig-amtlichen Ratsherrnton vergaßen und hier am öffentlichen Ort ein privates und überaus hitziges Gespräch sich entspann. Dieses turbulente Gespräch wies befremdliche Anzeichen von lärmender, höchstgradiger Entrüstung auf. Die Lebhafigkeit, mit der die Ratsherren diese öffentliche außerplanmäßige Diskussion führten, paßte in keiner Weise zu ihren Jahren – sie gingen auf die siebzig zu oder hatten sie gar schon überschritten. Hinter einem der staubigen Fenster hing die in Glut getauchte Sonne und zögerte, die allgemeine Verwirrung dieses seltsamen, kranken Tages hielt sie auf ihrem Weg zurück. Ein hellroter Streifen ihrer vorabendlichen Hitze lag wie ein orangefarbenes Stück Stoff quer über den mit grünem Tuch bedeckten Ratstisch. Von den fünf anderen Fenstern liefen die Streifen als Stützen zur gegenüberliegenden Wand in dicken Balken satten Lichts. In dem von diesen Balken durchfurchten Saal schien es, als ob die abendliche Straße, auf der sich zu ergehen jetzt unvergleichlich viel angenehmer gewesen wäre –, als ob die Straße den Saal stütze, verkürz' diese unmäßig helle Straße, und der Saal wird sich zusammenkrümmen und einstürzen.

    Anstifer des unpassenden Gesprächs mit Seebald waren sieben Ratsherren; die übrigen siebzehn, jünger als ihre Amtsbrüder, mischten sich in die erregte Debatte und verlangten Erklärung des Gesprächsgegenstandes. Die Aufregung der Alten war den Jüngeren ebenso unverständlich, wie ihre Worte es waren. Jene beeilten sich, die Neugier der Nichteingeweihten gleich sechsfach zu befriedigen, indem sie ihnen um die Wette Bruchstücke eines höchst verwickelten Vorfalls aus der längst vergangenen Geschichte ihrer Stadt zuwarfen. Diese Geschichte aber tauchte gleichzeitig auch ganz für sich und in ihrem Zusammenhang in der Wiedergabe auf, die Kurt Seebald der geneigten Begutachtung darbot. Allmählich legte sich die Erregung der alten Ratsherren, und der einer so würdigen Versammlung angemessene Ton fand sich wieder und wurde erneut aufgegriffen. In diesem Ton konnten dann die noch offenen Fragen, die Kirmes betreffend, erledigt und die Angelegenheit jenes Menschen verhandelt und geklärt werden, die Seebald in seinem außerordentlichen Antrag zur Tagesordnung, der alle so erregt hatte, vorgebracht hatte.
    Und die Sonne hing immer noch in der Luf, hinter dem staubigen, von Spinnweben und Dämmerung grauen Glas des rechten äußersten Fensters. Durch die letzte Verwirrung dieses seltsamen, kranken Tages auf ihrem Abstieg zurückgehalten, übergoß sie mit Glutwellen die untere Querleiste des Fensterrahmens.
    Dieser Tag war so unerhört lang, daß es schwierig ist, seinen Anfang zu finden. Seit dem Morgen durchstreifen Gerüchte über das gestrige Unwetter die Stadt. Man erzählte sich von der wunderbaren Himmelsfügung im Dorf hinter Rabenklippe: da schlug der Blitz in ein Hochzeitshaus ein. Die Brauteltern, die Gäste und das junge Paar kamen mit dem Schrecken davon, entgingen um Haaresbreite dem Tod. Noch ein anderes erstaunliches Ereignis erzählte man sich: der Blitz hatte ein angeschirrtes Pferd erschlagen gerade vor der Poststation, bei der Einfahrt in den Hof. Auch der Wagen war beschädigt worden, aber den Insassen war nichts geschehen. Mit dem Weitererzählen und dem Ausschmücken dieser Gerüchte hatte für viele Leute dieser sich nun dem Ende zuneigende Tag begonnen.
    Für Seebald hatte er schon viel früher angefangen. Die Schätzungen über die Folgen des gestrigen Hochwassers trafen ihn längst auf den Beinen. Er war kurz nach fünf aus dem Bett geholt worden durch einen achtbaren Herren, der aber AnneMarie, Seebalds zweiter Frau, seinen Namen nicht nennen wollte, als sie auf das anhaltende Klopfen hin in die Diele hinausgegangen war und ihm geöffnet hatte. Beim Anblick des Gastes, der ihn im dunklen Flur erwartete, war Seebalds Erstaunen, der endlich nach langem Gähnen, ausführlicher Besprechung mit Anne-Marie und ärgerlichem Achselzucken aus seiner Kammer kam, um so stärker und ungestümer, als er aus den Andeutungen seiner Frau in dem Besucher jemanden von der Verwandtschaf seiner seligen Susanne zu sehen erwartet hatte. »Dieser alte Teufel«, hatte Anne gesagt, »guckte mich ganz mißtrauisch an, als ich erklärte, daß ich Frau Seebald bin; er weiß wohl nicht, daß du wieder geheiratet hast. Glotzt mich an, als ob er sein Lebtag nicht gehört hätte, daß so was in der Welt

Weitere Kostenlose Bücher