Die Geschichte einer Kontra-Oktove
solle herunterkommen und sie begrüßen, sie sei hier draußen im Kirchgarten und warte auf ihn. Sie wolle auch den kleinen Gottlieb sehen, aber Knauer habe den Jungen ja, weiß Gott warum, mitgenommen, und der sei doch sicher längst hungrig; und wenn Knauer schon nicht mit dem Spielen aufhören wolle, solle er wenigstens den Jungen herunterschicken, sie würden dann schon nach Hause vorausgehen, und überhaupt … was könne das Kind dafür, daß sein Vater …
»Gottlieb ist nicht hier« – hatte Knauer sie unterbrochen, ohne sich umzudrehen – »er hat sich zwar vorhin hier herumgetrieben, ist aber nicht
mehr da. – Ich weiß nicht, wo er ist, wahrscheinlich bei Pockennarbs – ich sah ihn mit Terese.« »Wieder bei diesen Küstersleuten, Knauer, wie of …!«
»Ich verstehe nichts. Geh nach Hause, Dortchen, ich kann dich nicht verstehen.«
Ebensowenig Aufmerksamkeit wie den Worten seiner Frau hatte Knauer den störrischen Manualen geschenkt. Er widmete sich mit besonderer Behutsamkeit nun dem Pedal in den mittleren Oktaven, bis ihm endlich einige abschließende Akkorde Ruhe und Gelassenheit zurückgaben. Dann erhob er sich von der Orgelbank, verschloß den Spieltisch, schickte Seebald, der die Bälge getreten hatte, nach Hause und kletterte selbst in das Orgelgehäuse, um nachzusehen, wo die Ventile Gis und Ais beschädigt waren.
2.
Es war Pfingstsonntagabend. In den schwach erleuchteten Straßen hoben sich, wie Worte mit gleichmäßiger Stimme in vollständige Stille gesprochen, vom klar werdenden Himmel die knappen, bis zur Schwärze zusammengedrängten und verdichteten Konturen von Dachfirsten, spitzbogigen Karnisen, Kreuzgesimsen, Giebeln und anderen architektonischen Wundern der Gotik ab, dunkel von Alter und Dämmerung. Es fieberte sie von der Berührung mit dem Himmelssee, in dem auftauend und seine Tiefe mit dunkler Kühle nährend, zwei abgehackte Eisstücke schwammen: zwei große schmelzende Sterne erfüllten bis zum Übermaß die bewegte Helligkeit des Himmels. Und die schwarzen Konturen der Firste und Dachtraufen bebten in leichtem Schüttelfrost vor der Nähe solcher Quellen, er durchzitterte sie umsomehr, als es in den Dachziegeln keine Ausbuchtungen und Höhlungen gab, bis zu denen der Andrang dieser bleichen, herabsinkenden Nacht nicht gelangen, sie nicht finden und durchtasten würde.
In den Straßen war es still, und die Stille erregte in wunderbarer Weise den Himmel, angespannt horchte er und lauschte zitternd in die Ferne. Doch brauchte er nur über den ins Blattwerk der Kastanien gehüllten Wirtshauslaternen zum Vorschein zu kommen, um von deren trübem Schein angeleuchtet einen ganzen raschelnden, scharrenden Ameisenhaufen zu sehen, ein Gewimmel, das sich zu einem Klumpen träger, sich sammelnder Wörter zusammemdrängte, als die Bürger von Ambach mit Kind und Kegel in die Wirtsgärten hereinkamen, die Gartenstühle rückten und, ohne ihre von der Straße mitgebrachten Gespräche zu unterbrechen, sich an den Tischen niederließen. Da löste sich der Himmel aus dem schwieligen Astwerk der Kastanien, bog sich zu den Sprechenden hinunter; er hielt sich an den äußersten Zweigen, hing fast bis auf die Tischdecken hinab, biegsam und muskulös wie ein Turner, dunkel gebrannt von der Sonne, verbarg er sich vor den wenigen brennenden Gartenlaternen. Blütenkerzen, die er beiläufig streife, ließen dann und wann eine Blüte aus ihren steil aufgerichteten Pyramiden fallen. Diese Blütenblättchen sanken in die Bierkrüge, drehten sich, blieben schließlich im Spitzenwerk des Bierschaums hängen, das nach und nach zu einem Schlingengeflecht zerfloß – wie ein ausgelaufenes Ochsenauge. Und auf die leinenen Tischdekken schleuderte die Nacht mit vollen Händen Käfer, Falter und Motten, und wie ölig glänzende Kaffeebohnen mit trockenem Prasseln an der glühendheißen Wandung des Kaffeerösters knistern, zerschlugen sich Schwärme hartflügeliger Käfer an den Lampenzylindern. Und wie im Röstkessel die prallen Bohnen durcheinanderwirbeln, so wirbelten in den Gärten die Gespräche, die irgend jemand mit dem eisernen Handschäufelchen mischte und umrührte in dumpfem, einschläferndem Ton.
Hier, an den Tischen, sprach man von nichts anderem als von dem Unglück bei Knauers. Nur darum drehten sich die Gespräche. Alle Lust, sich zu vergnügen, war vergangen. Die Kaufleute und Handwerker mit ihren Frauen und Kindern hatten sofort, nachdem sich in Augenblicksschnelle die Nachricht in der
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