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Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Die Geschichte einer Kontra-Oktove

Titel: Die Geschichte einer Kontra-Oktove Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pasternak
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heranschnellenden Viper zurückzuckt, oder wie man den aus dem Ofen gefallenen Feuerbrand erschrocken vom Teppich zerrt, sich die Finger daran verbrennend und sie blasend. Die Hand hatte den Sohn in Oktaven gestreichelt: sie griff Oktaven an ihm.
    Der Organist stand auf, beugte sich über den Knaben, küßte ihn auf die Stirn und ging zur Tür. An der Schwelle zögerte er, schaute sich um, als erinnere er sich an etwas oder bemühe sich, sich etwas vorzustellen. Er ging zu dem Körper zurück, bückte sich und küßte ihn noch einmal, dehnte diesen Kuß eine Ewigkeit länger aus als den ersten. Er brauchte diese ungebührlich lange Frist zur Ausführung eines nur ihm allein bekannten und in aller Erschütterung feierlichen Beschlusses. Im Verlauf dieses ungebührlich langen Augenblicks versuchte er, etwas von seinen Lippen auf die wächserne Stirn des Knaben zu übertragen, doch stattdessen ging von dieser wächsernen Stirn ein kalter Anhauch auf seine Lippenhaut über wie der undeutliche Abdruck eines feuchten Blattes auf ein trockenes. Dann, nachdem er sich mit dem Taschentuch die Augen gewischt und kräfig die Lippen abgerieben hatte, verließ der Organist eilig das Zimmer; rasch ging er durch den Hausflur, nahm seinen Hut und lief hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
    Der feuchte Morgen drang ihm wie Schaum in die Augen, verdampfe auf ihnen und trocknete sie. Der Duf von Gras und Flieder stieg ihm zu Kopf, der bittere Hauch von Pappeln und staubigen aufgetrockneten Pfützen. Und Vögel waren da. Sie zwitscherten. Zwitscherten. Er hörte sie. Hörte sie unablässig.

    Seit diesem Tag hat man ihn in der Stadt nicht mehr gesehen. Wie der kleine Gottlieb begraben wurde, hat sein Vater nie erfahren.

Zweiter Teil

    (Der zweite Teil der Handschrif umfaßt 43 Seiten Großformat und zerfällt in zwei Kapitel. Im ersten Kapitel fehlt ein Abschnitt von vier Seiten. Im Text blieben hie und da Sätze unvollendet; Satzteile und einzelne Wörter wurden ausgelassen, da Pasternak auf der Suche nach gemäßem Ausdruck den endgültigen noch nicht gefunden hatte. Zum besseren Verständnis des jeweiligen Zusammenhangs werden, soweit dies möglich ist, einfachste gedankliche Äquivalente in Klammern kursiv eingefügt. Nicht rekonstruierbare Stellen sind durch Punkte gekennzeichnet.)

    »Na, wie sieht's aus? Immer noch nichts? Noch keiner zurückgekommen?« Mit solchen und ähnlichen Fragen bestürmten die ungeduldigen Reisenden den Posthalter Schlippe jedes Mal, wenn er, im Bemühen seine Körperfülle so unsichtbar wie möglich zu machen, auf Zehenspitzen durch den riesigen, dämmrigen Raum der Poststation zurück in seine eigene Stube ging. Er blieb dann stehen, hob beide Hände mit nach außen gekehrten Handflächen, wie um eine Attacke abzuwehren. Er bereitete sich gewissermaßen darauf vor, einem Angriff widerstehen zu müssen, und krächzte flüsternd:
    »Die Extrapost ist noch nicht zurück. Lemke hat auch keine Pferde mehr. Und daß bei mir im Stall kein einziges steht, das wissen Sie ja. Hochehrwürden mit ihrer Suite haben alle gebraucht. Sie müssen ihnen unterwegs begegnet sein. Der Weg bis zur nächsten Poststation ist weit, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als hier zu übernachten, meine Herrschafen.«
    »Es handelt sich nicht ums Übernachten, Herr Postmeister«, wiederholte zum zehnten Mal ein Herr in Perücke und hohen französischen Reitstiefeln. »Viele von uns – nicht wahr –,« fuhr er fort und wandte sich an die Hochzeitsreisenden, »viele von uns«, fuhr er fort und lächelte so, als wollte er den Posthalter Lügen strafen, »viele von uns reisen, nicht ohne eine Nacht im Gasthof zu verbringen; aber wir könnten schon in Treysa sein und dort übernachten, stattdessen haben wir hier zehn Stunden nutzlos vergeudet, zehn Stunden, Herr Postmeister!« Am Ende dieser oder ähnlicher Reden stahl sich der Posthalter bis zur Tür seiner Stube und sagte, mit den Armen rudernd, heiser flüsternd, indem er sich dem ganzen Saal zuwandte wie zum Antlitz des Höchsten: »Nichts zu machen, meine Herrschafen, Seine Hochehrwürden …«, dann verschwand er und sperrte die Tür von innen vor den ungehaltenen Reisenden ab. Und sie drückten sich in die Ecken und wirkten winzig und unansehnlich in dem leeren, großen Saal mit den vier Fenstern zur Straße und zwei runden Luken zum Hof. Die im Raum nistende Dämmerung stand in grauen Lufsäulen vom Fußboden bis zur Decke, ohne ihren Ort zu verlassen, bewegte

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