Die Geschichte einer Kontra-Oktove
brannte, denn auch das Zimmer, in dem es nach Straße roch, war sich selbst überlassen. Und hinter dem Morgen her zogen im Gänsemarsch seine Gerüche ins Zimmer – Gerüche von dufenden Blumengärten, von umliegenden Gemüsegärten, von weiter entfernten Torfmooren und von noch ferner lagernden Bergen – und die Kerzenflamme blähte sich auf von der Vielfalt so fröhlicher Weiten, die sie grüßten; sie schwankte aufgeregt, ihren Docht mit sich ziehend, horchte sie auf und bezog dann aufs neue ihren Wachtposten, blaß, hohlwangig und aufrecht wie ein Stock. Die ganze Nacht hindurch hatte sie gebrannt, nun war sie sterbensmüde. Schon konnte sie nicht mehr leuchten, und das absterbende Zünglein der geschwächten Flamme schwamm rücklings wie die Bauchflosse eines toten Fisches auf der Strömung, in die ein Rinnsal morgendlicher Kühle mündete.
Noch hatte der Morgen keinen Schritt ins Zimmer tun können, als er dicht an der Tür mit Tante Auguste zusammentraf, die mit einer Kerze in der Hand auf ihn zukam, ohne ihn zu bemerken. Sie machte ihm die Tür vor der Nase zu, blies beide Kerzen aus und ging schwer aufseufzend zu ihrem Bruder. So blieb die ersehnte Tür verschlossen. Aber hinter der ersehnten Tür, im Schlafzimmer – im Zimmer, in dem bis zum Fußboden hinab die prächtigsten und schwerfälligsten Quasten und Borten des Klage-Baldachins hingen – in diesem Zimmer trug sich bei geschlossenen Vorhängen folgendes zu.
Hier befand sich der Körper des Kindes, und über ihn gebeugt, schwankte die Mutter wie ein Wrack. Einmal hatte sie das Kind mit ihrer Brust genährt. Jetzt nährte sich ihre Brust, in Hungerkrämpfen sich krümmend, von den üppigen Almosen des überwältigenden Schmerzes. Unersättlich – wie eine wahnsinnige Hündin – hatte sie mit scharfen Zähnen wie von einem Knochen von ihrem Kummer alles abgenagt, was ihrem Leid als Nahrung dienen könnte. Und weder in dem spitz gewordenen Gesichtchen des Kindes noch in ihren eigenen Erinnerungen gab es auch nur das geringste Restchen, das ihrem Biß hätte entgehen können: alles ringsum war verseucht, alles war abgenagt, doch der wütende Hunger ihres Grams wollte nicht nachlassen. Während ihr Gedächtnis noch nicht berührte Einzelheiten Ihrer nun vergangenen Mutterschaf sortierte, bemerkte sie plötzlich in der Ecke ein Spielzeug. Mit verdoppelter Gier klammerte sie sich an diesen Gegenstand. Es war ein Holzpferdchen, ein Geschenk von Tante Auguste. Er hatte sich nicht mehr daran freuen können, hatte es gar nicht mehr gesehen, der arme Erstick … »O mein Gott, was ist das, um alles in der Welt! O!«
Und wohl der Anblick dieses Geschöpfs brachte erpresserisch die Tränen zum Fließen. Die ganze Nacht hatte das fahle Licht des Todes sein Gesicht erhellt. Wie absichtlich hatte der Tod so für die Mutter geleuchtet, daß ein Lichtbündel aus dem häßlichen Öllämpchen auf nichts anderes als auf das winzige Gesicht des Kindes fiel. Dieses Gesicht war der einzige helle Gegenstand im ganzen Zimmer. Es warf sich einem förmlich in die Augen und erschreckte durch seine Blässe. Alkoholiker sehen im Delirium der Todesnot of – in welchem Jahrhundert auch immer – ein und denselben guillotinierten Kopf in die Serviette eines Barbiers gebunden. – Der Kopf des Kindes, dessen Gewicht man mit den Augen schätzen konnte – denn es war ein toter Kopf, geformt aus weißer, talgiger Masse, so wie der Balken einer Pfundskerze aus einem Pfund weißen Wachses gezogen wird – dieser Kopf, der sich vom Leben gelöst hatte, vom ganzen Reichtum der Gebärden, von allen Arten des Lächelns, des Lachens, der Grimassen, hatte sich für seinen Weg in die jenseitige Welt allein den Ausdruck kindlichen Entsetzens gewählt, und da unterwegs kein anderer mehr zur Hand sein würde, war diesem Ausdruck keine Wandlung mehr beschieden, niemehr, niemehr. Doch im Kinderzimmer gab es eine Menge Spielsachen, und so viele Gesten und fröhliche Grimassen hatten sich dem Gedächtnis der Mutter eingeprägt, daß es ihr in den Händen zuckte, ihm etwas auf den Weg mitzugeben, irgend etwas Notwendiges, etwas, das ihm dort vielleicht angenehm wäre – ihm geben, solange es noch nicht völlig zu spät ist, so lange er noch hier ist, bald wird es endgültig zu spät sein, auf ewig zu spät, unabänderlich zu spät. –
Und sie wiegte sich in ihrem Schmerz hin und her!
Wie? Ihn jetzt verlassen, jetzt, wo er ohne Aufsicht und ganz allein sein wird! Ihm eine derartige Freiheit
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