Die Geschichte eines schoenen Mädchens
die Deckel eines Buches, das niemand lesen wollte.
Clarence zerrte Lynnie aus der Limousine. Sie stand wankend nach der langen Fahrt und hob den Blick zum bewölkten Himmel, als Onkel Luke zu Clarence sagte: »Sie werden angemessen für Ihre Überstunden entschädigt.«
Noch immer waren keine Sterne zu sehen, und ihr fiel wieder ein, dass sie Sterne lange Zeit nur für blitzende Punkte am Himmel gehalten hatte. Dann hatte Buddy auf den Himmel in den nächtlichen Landschaften, die sie gezeichnet hatte, gedeutet, einen Zuckerwürfel zerrieben und die Körnchen in bestimmten Mustern auf dem Papier verteilt. Und er benutzte seine Gebärdensprache,um ihr die Namen der Konstellationen zu verdeutlichen. Tasse mit Henkel. Feder. Bis morgen Abend würden sich die Wolken verzogen haben. Dann konnten sie auf ihrer erneuten Flucht die Sterne betrachten.
Mit Clarence an ihrer Seite und Onkel Luke vor ihnen, stieg Lynnie die Marmorstufen zu dem Gebäude mit dem Turm hinauf. Mit der Eichentür, den Messingbeschlägen, den buschigen Hecken und gitterlosen Fenstern unterschied es sich von den anderen Cottages. Lynnie wartete frierend in dem Kleid der alten Lady, während Onkel Luke die Schlüssel aus der Tasche kramte. Sosehr sie es hasste, in der Zwangsjacke zu stecken, war sie doch froh, dass sie ein wenig gegen den kalten Wind geschützt war. Als Onkel Luke die Tür öffnete, merkte sie, dass sie sich dringend erleichtern musste – in diesem Haus hatte sie die Toilette noch nie benutzt.
Sie litt noch immer unter Schmerzen nach der Geburt und war nicht sicher, ob sie dem Druck auf die Blase standhalten würde. Andererseits konnte sie den Gedanken, den Männern ihre Not klarmachen zu müssen, nicht ertragen, deshalb presste sie die Schenkel fest zusammen. Unter dem Kleid spürte sie die Binde, die die alte Frau ihr gegeben hatte – eine Erinnerung an das, was ihr die Zeit mit Buddy bewiesen hatte: Sie konnte mehr schaffen, als sie jemals für möglich gehalten hatte.
Seit ihrem ersten Tag war Lynnie nicht mehr in diesem Büro gewesen, doch es sah noch aus wie vor Jahren: der Schreibtisch für die Sekretärin Maude, der Perserteppich, die Windsorstühle, die Standuhr und – auf der Seite – die Holztür zu Onkel Lukes Büro. Es roch auch noch genauso: nach Leder, Tabak und Büchern. Lynnie sog die Luft ein und genoss die Gerüche, als Onkel Luke eine Zigarette aus einer silbernen Dose nahm, Clarence ansah und wartete, bis er den Wink verstand. Mit zusammengebissenenZähnen gab Clarence ihm Feuer. Schließlich kehrte Onkel Luke ihnen beiden den Rücken zu und nahm den Telefonhörer ab. Lynnie hörte einen Klingelton irgendwo in der Nähe – vielleicht in A-3, ihrem Cottage. Wenn ja, hatte Kate vielleicht Dienst, und alles wurde gut.
Kate machte wie die meisten Angestellten oft Überstunden. Für eine Pflegerin, die für vierzig Insassen zuständig war, gab es immer genügend zu tun. Vielleicht behandelten viele Pfleger und Pflegerinnen ihre Schützlinge und Kollegen deshalb so gemein. Gottlob gab es auch Ausnahmen. Die ganz netten brachten hin und wieder sogar Leckereien von zu Hause mit, zeigten Fotos von ihren Kindern und benutzten nicht die hässlichen Spitznamen – »Buckel-Larry«, »Mr. Magoo«, »Einfaltspinsel« oder den, den sie Lynnie zugeschrieben hatten: »Nein-nein«. Sie strengten sich sogar an, den Patienten etwas beizubringen.
Kate war so eine Ausnahme. Fünf Jahre nachdem Lynnie den IQ-Test bei ihrer Aufnahme gemacht hatte, der sie als »mittelgradig minderbemittelt« ausgewiesen hatte und sie den anderen geistig Zurückgebliebenen zugeteilt wurde, hatte Kate bemerkt, dass Lynnie den Mop nicht nur hin- und herschob, wenn sie die Hausarbeit, die Teil ihrer »Therapie« war, verrichtete. Sie zeichnete Muster auf die Fliesen – das Putzmittel schillerte wie Halbmonde im Licht. Kate berichtete der Psychologin davon, die einen neuen Intelligenztest anordnete. Danach wurde Lynnie in das Cottage mit den etwas weniger Schwachsinnigen verlegt. Dort hatte sie Doreen kennengelernt, ein kleines blondes Mädchen mit chinesisch anmutenden Augen – ihr Bett stand gleich neben dem von Lynnie. Kurz darauf stellte Kate, die gegen die Regeln Malkreide mit in den Aufenthaltsraum gebracht hatte, fest, dass Lynnie Pferde zeichnete – stolze blaue Pferde mit wehenden Mähnen.»Das ist großartig, Süße«, sagte Kate und richtete es so ein, dass Lynnie hin und wieder zu ihr ins Büro im Personalcottage kommen konnte. Sie
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