Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
die Karte: »Gustav Oppermann, Wrack«. Die ursprüngliche Adresse »Gustav Oppermann« war durchgestrichen und von Gustav Oppermann handschriftlich geändert worden in »Heinrich Lavendel«.
Das dritte Stück war ein Brief Dr. Klaus Frischlins, des Sekretärs von Gustav Oppermann. Er lautete:
»Geehrter Herr Heinrich Lavendel, Dr. Gustav Oppermann, Ihr Onkel, hat mich beauftragt, Ihnen den anliegenden Bericht und die anliegende Postkarte zuzustellen. Er hätte es lieber gesehen, wenn ich Ihnen das Dokument und die Postkarte persönlich übergeben hätte. Unaufschiebbare Geschäfte nötigen mich aber, in Deutschland zu bleiben. Ich lasse Ihnen daher die Schriftstücke durch einen Vertrauensmann zustellen.
Den Bericht hat mir Ihr Onkel zwei Tage vor seinem Ableben diktiert. Das Sprechen machte ihm große Schwierigkeiten. Er war aber, wie aus der Klarheit der Diktion hervorgeht, noch im Vollbesitz seiner Geisteskraft. Nach der Lektüre des Manuskripts gab er in meinem Beisein vor dem Notar Dr. Georg Neustadel die eidesstattliche Versicherung ab, nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit gesprochenzu haben. Eine Abschrift der notariellen Urkunde füge ich bei.
Nachdem der Notar gegangen war, bat mich Dr. Oppermann, ihm eine Frage zu beantworten, die ihn beunruhigte: ob ich nämlich ihn und sein Leben für unnützlich hielte. Ich erwiderte ihm, er habe unter sehr gefährlichen Umständen seine Bereitschaft gezeigt, für das Richtige und Nützliche einzutreten. Er habe indes nur gesehen, was ist, und keinen nützlichen Rat gewußt, was zu tun sei. Er habe einen Marathonlauf gemacht, um eine Meldekapsel zu überbringen: leider nur sei keine Botschaft in der Kapsel gewesen.
Steigende Atemnot verhinderte Ihren Onkel, zu erwidern. Da aber deutlich erkennbar war, daß er mehr hören wollte, und da ich ihm, sosehr ich sein Verhalten als unnützlich mißbilligte, befreundet war, trug ich kein Bedenken, folgendes hinzuzufügen: er habe zwar die Wahrheit nicht gehabt, sei aber ein gutes Beispiel gewesen. Die Arbeit gehe weiter, und wir wüßten, was zu tun sei. Unter ›wir‹ verstand ich, und wohl auch er, einen sehr großen Teil der deutschen Bevölkerung. Ich versicherte ihm, man werde uns nicht kleinkriegen.
Dr. Oppermann, so schwer ihm das Sprechen fiel, forderte mich wiederholt auf, Ihnen, Herr Heinrich Lavendel, von dieser Unterredung Kenntnis zu geben. Was hiermit geschehen ist. Ihr Klaus Frischlin.«
Kein einziger von den Menschen dieses Buches existierte aktenmäßig innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs in den Jahren 1932/33, wohl aber ihre Gesamtheit. Um die bildnishafte Wahrheit des Typus zu erreichen, mußte der Autor die photographische Realität des Einzelgesichts tilgen. Der Roman »Die Geschwister Oppermann« gibt nicht wirkliche, sondern historische Menschen.
Material über die Anschauungen, Sitten und Gebräuche der »Völkischen« in Deutschland findet sich in Adolf Hitlers Buch »Mein Kampf«, in den Berichten jener, die aus den Konzentrationslagern entkamen, sowie insbesondere in den amtlichen Bekanntmachungen des »Deutschen Reichsanzeiger«, Jahrgang 1933.
L. F.
Zu diesem Band
Im November 1932 verließ Feuchtwanger Berlin. Eine Vortragsreise führte ihn nach England und von dort nach den USA. Daß er niemals wieder nach Deutschland zurückkehren würde, ahnte er nicht. Noch im Dezember äußerte er in Interviews zuversichtlich: »Hitler is over.« Seine Selbsttäuschung über das Ausmaß erreichter Faschisierung sollte ein halbes Jahr später ein wesentlicher Problembereich seines Romans »Die Geschwister Oppermann« werden. Die bestürzende Nachricht von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die ihn am Abend des 30. Januar 1933 auf einem Empfang des deutschen Botschafters in Washington erreichte, zerstörte schlagartig jede Illusion. Sein Kommentar »Hitler means war« ging am nächsten Tag durch die amerikanischen Zeitungen.
Als wenige Tage nach dem Reichstagsbrand Feuchtwangers Haus in Berlin von der SA durchsucht, geplündert, vieles – darunter das »bis zu seinem Ende entworfene und zu einem großen Teil ausgeführte« Manuskript des zweiten Teils der »Josephus«-Trilogie – vernichtet wurde, befanden sich Marta und Lion Feuchtwanger wieder in Europa, in Österreich. Es war nur eine Zwischenstation. Ihr Exilland wurde Frankreich.
Mit der Wiederherstellung des »Josephus«-Manuskripts ließ sich Feuchtwanger Zeit, die politischen Ereignisse der letzten Monate setzten
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