Die gestohlene Zeit
brachte. Doch zu spät.
»So ist es, König der Zwerge, dein Untertan hat es bezeugt«, schaltete sich jetzt Jonathan geistesgegenwärtig ein.
»Stell mir eine Frage! Vermag ich sie nicht zu lösen, werde ich für immer in deinen Diensten stehen. Doch weiß ich die richtige Antwort, so lass mich gehen.«
Laurin zögerte. Jonathans Miene war angespannt, aber sein Tonfall klang spöttisch. »Nun? Hältst du Wort, oder hast du etwa Angst?« Herausfordernd blickte er Laurin an.
»Angst?«, keifte der Zwerg erbost. »Dummer Menschling, ich fürchte mich vor nichts und niemandem, merk dir das!«
Schnaubend wandte er sich an seinen Untertan, der vorhin schon gesprochen hatte. Die beiden tuschelten miteinander, dann nickte der König hoheitsvoll, und der Zwerg trat vor. Laurin grinste schadenfroh, und mir wurde vor Aufregung schwindlig. Würde es Jonathan schaffen? Vor Nervosität grub ich meine Zähne in die Unterlippe, bis sie beinahe blutete. Mir kam es vor, als stünden Jonathan und ich auf einem sehr dünnen Seil über einem sehr tiefen Abgrund, und der nächste Schritt würde über unser Leben entscheiden.
Bevor ich noch überlegen konnte, ob es wohl half, ein Stoßgebet gen Himmel zu schicken, räusperte sich der Zwerg gewichtig und begann: »Nun sage mir, Menschling, was das ist:
Der ihn macht, der will ihn nicht.
Der ihn trägt, behält ihn nicht.
Der ihn kauft, der braucht ihn nicht.
Der ihn hat, der weiß es nicht.«
Sinnlos purzelten die Silben durch meinen Kopf. Ich konnte mit den Worten des Zwerges nichts anfangen. Wer sollte etwas kaufen, was er nicht brauchte? Ein Schmuckstück konnte es wohl kaum sein. Mein Blick flog zu Jonathan. Er schwieg. Die stählerne Falle der Angst schnappte nach mir und vergrub ihre Zähne tief in meine Eingeweide. Bleischwer hing die Stille in der milden Abendluft. Da erklang Jonathans Stimme, fest und klar. »Die Antwort lautet … Ein Sarg!«
Ich sog den Atem ein. Darauf wäre ich nie gekommen. Bewundernd sah ich Jonathan an. Er schenkte mir ein kaum merkliches Lächeln, und ich hatte plötzlich das Bild des Raben vor Augen, der wie gebannt vor dem Fernseher gesessen und diese Rätselsendung verfolgt hatte. »Ein Rätsel lösen bedeutet Um-die-Ecke-Denken«, hatte der Moderator damals gesagt. Genau das hatte mein Liebster getan.
Vier, fünf, sechs Sekunden sagte niemand ein Wort. Dann kratzte sich der Fragensteller am Kopf. »Das stimmt«, meldete er sich zögernd zu Wort. »Der Menschling hat das Rätsel gelöst!«
Laurin glotzte Jonathan sprachlos an. Ich wusste, der König war sich sicher gewesen, sein ehemaliger Gefangener würde versagen. Zu sicher. Und nun konnte er nicht glauben, dass er sich getäuscht hatte. Langsam schien er zu begreifen, dass er verloren hatte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hasserfüllten Fratze. In blinder Raserei brüllte er auf und stampfte mit den Füßen.
»Warum kennst du die Lösung?«, kreischte er mit einer Stimme, die klang wie Kreide, die über eine Schiefertafel schrammt. »Mein Untertan hat mir bei seinem Leben geschworen, du hättest nie eine Antwort auf meine Rätsel gehabt!«
Das kaum sichtbare Lächeln nistete immer noch in Jonathans Mundwinkeln. »Dein Untertan hat nicht gelogen, König der Zwerge«, erwiderte er gelassen. »Bei deinem letzten Rätsel im Berg habe ich ihm tatsächlich keine Antwort gegeben. Jedoch nicht, weil ich nichts wusste. Sondern weil ich es nicht konnte.«
»Wo ist da der Unterschied, du missratenes Balg?«, keifte Laurin. Das leichte Lächeln wich nicht aus Jonathans Gesicht.
»Ich hatte des Rätsels Lösung parat. Jedoch brachte ich es nicht übers Herz, in die Freiheit zu gehen und das Mädchen als deine Gefangene zurückzulassen«, sagte er und fuhr mit einem tiefen Blick in meine Augen fort: »Denn ich hatte mich auf den ersten Blick in sie verliebt.«
Mein Herz schien zu doppelter Größe anzuschwellen, und gleichzeitig fühlte ich eine überwältigende Kraft in mir. Mit einem Satz war ich bei Jonathan und zog ihn aus dem Kreis der Zwerge. Sie wichen zurück und ließen es stillschweigend geschehen. Ich schlang meine Arme fest um ihn. »Du bist so klug«, murmelte ich unter Tränen. Er drückte mich an sich. »Und du hast mir das Leben gerettet, Liebste«, flüsterte er nah an meinem Ohr.
Ich hob den Kopf und begegnete Laurins feindseligem Blick.
Seine Kiefer mahlten, und er schien sich nur mühsam zu beherrschen, uns nicht doch einen Fluch auf den Hals zu schicken
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