Die gestohlene Zeit
Laurin würde uns nicht aufhalten.
Doch wir hatten kaum zwei Schritte getan, da schrie der König einen Befehl, und binnen Sekunden waren wir umzingelt. Besser gesagt – Jonathan. Laurins Schergen hatten einen Kreis um ihn gebildet und rückten jetzt so dicht zusammen, dass er keine Chance hatte zu entkommen. Mich dagegen beachteten sie nicht. Gelähmt vor Schreck fragte ich mich, wieso der Zwergenherrscher mich nun doch hintergehen hatte können.
»Du hast gefordert, ich möge euch beide nicht mit meiner Rache verfolgen. Nun, es sei. Jedoch hast du vergessen, mich bei deinem letzten Wunsch zu bitten, auch
ihm
die Freiheit zu schenken«, feixte der König und deutete auf Jonathan. »Also ist er immer noch mein Koch – und das wird er nun auf ewig bleiben«, beantwortete Laurin meine unausgesprochene Frage. Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf seinem hässlichen Gesicht aus und verlieh ihm das Aussehen eines Dämons.
Der Schock durchfuhr mich wie ein greller Blitz, und ich sah mein Entsetzen in Jonathans Augen gespiegelt. Fieberhaft überlegte ich, was ich gesagt hatte und ob Laurin mich nicht vielleicht belog. Doch so sehr ich es drehte und wendete: Der Zwergenkönig hatte recht. Jonathans vergessener Name in meinem Wunsch nach Freiheit war unser Verhängnis geworden. Ich hatte das Gefühl, in einen Strudel gezogen zu werden, der mich unerbittlich in die Tiefe zog. Das bösartige Wesen wusste genau, was es tat. Mich hatte er nicht bekommen. Also nahm er mir das Kostbarste, was ich im Leben hatte, und übte damit doch noch schreckliche Rache.
In meinem Kopf rasten die Gedanken. Ich würde Jonathan nicht gehen lassen. Oder ich würde zurückkommen, nachdem ich die Polizei alarmiert hatte. Oder die Feuerwehr, nein, die Bergwacht!
Gleich darauf wurde mir klar, wie absurd mein Plan war. Niemand würde mir die Geschichte meines Freundes abnehmen, der sich in der Gewalt von Zwergen tief im Berg befand, vor allem, da Jonathan offiziell nicht existierte. Man würde mich auslachen oder, noch schlimmer, in die Klapsmühle stecken. Und selbst wenn ich eine Horde kräftiger Männer auftriebe, die mit mir kommen würden: Die Zwerge waren unmenschlich stark und damit unbesiegbar.
Trotzdem suchte ich weiter fieberhaft nach einer Lösung, meinen Liebsten zu befreien, doch alle Pläne und Ideen wurden zu einem wirren Gedankenknäuel, in dem ich mich selbst verhedderte, bis ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde gleich platzen.
»Lasst uns gehen«, ordnete Laurin an, und zu meinem Entsetzen stießen die Zwerge Jonathan vor sich her in Richtung des Eingangs zu Laurins steinernem Reich. Er drehte den Kopf und schenkte mir einen letzten Blick, in dem so viel Liebe und Traurigkeit lag, dass ich spüren konnte, wie ein schmerzhafter Riss durch mein Herz ging.
»Nein«, schrie ich und stürzte vorwärts. Ich konnte nicht zulassen, Jonathan nie mehr zu sehen. Die Vorstellung, er müsste in die dunkle, stickige Küche von Laurins Felsenpalast zurückkehren, den Grausamkeiten der schrecklichen Geschöpfe ausgesetzt und sein restliches Leben dazu verdammt, ihrem König zu dienen, war für mich unerträglich. Ich dachte daran, wie er damals wegen mir dort unten geblieben war, obwohl er ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hätte, seine Freiheit zu erhalten …
Wieder durchfuhr mich ein Blitz, diesmal allerdings war es eine Idee, die mich elektrisierte. Zwar war die Chance nur verschwindend gering, aber vielleicht hatten Jonathan und ich noch einmal Glück.
»Haltet ein«, rief ich aus voller Kehle, gerade als die Zwerge den Höhleneingang erreicht hatten.
Träge drehte Laurin sich zu mir um. »Ein paar letzte Worte an meinen Diener zum Abschied, Menschling?«, griente er hämisch.
»Das Rätsel!«, stieß ich hervor. »Du hast ihm stets versprochen, wenn er eines deiner Rätsel lösen kann, wäre er frei. Wenn er es nicht vermag, dann sollst du ihn haben.«
Jonathan sog scharf die Luft ein. Mein Blick ging jedoch zu Laurin. Jeden Moment erwartete ich ein Hohngelächter und erahnte sein »Nein«, ehe das Wort seinen Mund verlassen hatte.
»Ja, Majestät, das Rätsel!«, kam einer der Zwerge ihm im selben Augenblick zuvor. Ich glaubte, in ihm den Gnom zu erkennen, der damals mit in der Küche aufgetaucht war, um Jonathan zu befragen.
»Ihr habt dem Menschling tatsächlich die Freiheit versprochen, wenn er die richtige Lösung …«, plapperte der Zwerg eifrig, ehe ihn der vernichtende Blick seines Gebieters zum Schweigen
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