Die gestohlene Zeit
Ahnung hatte, worauf Caro hinauswollte.
»Ich habe vor Ort einen Luftröhrenschnitt gemacht, sonst wäre der Mann gestorben«, fuhr sie fort. Bei dem Bild vor Augen wurde mir leicht übel, und ich musste ein paar Mal tief durchatmen, wobei ich hoffte, Caro würde nicht noch mehr ins Detail gehen.
»Er hatte herausgefunden, wer ich war, und als er nach ein paar Tagen aus der Klinik kam, hat er mich angerufen. Er versprach, mir zum Dank für sein Leben jeden Gefallen zu tun, der in seiner Macht stünde. Er ist ein ziemlich hohes Tier in einer gewissen Behörde …«, fuhr Caro fort und blickte mich nun endlich an.
»Behörde? Ja und?«, fragte ich ratlos.
»Emmi, rutsch mal ein Stück zur Seite. Du sitzt auf dem Schlauch«, schmunzelte Caro und versetzte mir einen liebevollen Knuff.
Da kapierte ich endlich. »Du meinst …«, fing ich hoffnungsvoll an. »Ich habe noch seine Visitenkarte«, unterbrach Caro und zeigte ihr typisches Grinsen, das kein Alter und keine Zeit kannte.
Bis heute weiß ich nicht, wie genau sie es geschafft hat, den Mann zu überzeugen, aber jetzt halten Jonathan und ich unsere Pässe in der Hand, und nichts anderes zählt. Unser wahres Alter würde uns sowieso niemand glauben, und die einzigen Zeugen, die uns Böses wollen könnten, sind verschwunden. Nur von Frank tauchte zwei Monate nach unserer Rückkehr noch eine Spur auf, über die in der Zeitung kurz berichtet wurde: Beim Überqueren des Gebirgspasses sah ein Wanderer zufällig etwas Silbernes zwischen den Steinen blinken. Tatsächlich fand sich zwischen ein paar gekrümmten Latschenkiefern, halb verborgen unter einem Findling, ein Handy. Der Wanderer brachte es zur Polizei. Es war durch Wind und Regen ziemlich ruiniert, aber es gelang, die Speicherkarte zu retten und sie von Spezialisten rekonstruieren zu lassen.
Es stellte sich heraus, dass die Handynummer einem gewissen Frank Reger gehörte, der jedoch nicht zu erreichen war. Die Beamten fragten schließlich bei seinem Vermieter nach, doch der hatte Frank seit Wochen nicht gesehen und inzwischen seine schäbige Wohnung räumen lassen. Anhand der Speicherkarte konnten die Beamten sehen, dass Frank vor seinem Verschwinden offenbar mehrmals die Nummer des Anwalts Udo von Hassell gewählt hatte, den seine Frau vor etwa acht Wochen als vermisst gemeldet hatte. Auf Regers Handy fanden sich keinerlei Hinweise, was mit ihm und seinem alten Schulfreund geschehen war. Einzig ein Foto, geschossen mit der Kamera des Handys, zeigte mehrere prächtige, tiefrote Rosen, die förmlich zu glühen schienen. Doch weil sich weder Frank noch Udo auf diese Notiz in der Zeitung meldeten und sich sonst keine Spur fand, die zu den beiden Männern führte, wurde die Akte Reger/von Hassell wohl schließlich unter »ungelöste Fälle« abgeheftet.
Obwohl ich keine Ahnung habe, wo Frank abgeblieben sein könnte, bin ich mir sicher, dass er uns nicht mehr gefährlich werden kann.
»Und das ist das Wichtigste«, stellt Jonathan fest, der wieder einmal meine Gedanken erraten hat. Ein Überbleibsel von Laurins Fluch, denke ich, doch im Gegensatz zu den anderen Erinnerungen an den Zwergenkönig, die zum Glück immer seltener in nächtlichen Alpträumen wiederkehren, ist das Gedankenlesen etwas, womit ich leben kann; sind Jonathan und ich auf diese Weise doch so etwas wie Seelenverwandte.
»Vermisst du eigentlich manchmal das Fliegen?«, will ich wissen und denke an den schwarzen Raben, der er einst war – zumindest für eine gewisse Zeit.
Jonathan lächelt. »In den Lüften herrschte eine grenzenlose Freiheit. Aber ich war einsam dort oben, ohne dich. Was sollte ich also vermissen?«
Er küsst mich und wischt mir zärtlich über einen Fleck auf der Nase. »Farbe«, erkläre ich.
»Morgen komme ich mit und helfe dir beim Anstreichen der Wände«, verspricht er. »Ist es nicht ein unglaublicher Zufall, dass die Räume heute wieder leer stehen, die vor beinahe drei Jahrzehnten schon dein Begehr gewesen waren?«
Ich muss lächeln. Nicht, weil sich Jonathan manchmal noch sehr altertümlich ausdrückt, sondern weil ich nicht mehr an Zufälle glaube. Vielleicht war es die Magie von Laurins Ring, den ich eine kurze Weile besessen hatte, oder eine Fügung des Schicksals. Jedenfalls hatte, ein paar Wochen nachdem Jonathan und ich heil aus dem Rosengarten zurückgekehrt waren, auf einmal im Schaufenster des Ladens, den ich damals nach unserem Schulausflug mit Caro hatte besichtigen wollen, ein Schild gehangen:
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