Die Glasblaeserin von Murano
spreizte Corradino unwillkürlich die Finger. Fast meinte er zu spüren, wie sich ihre kleinen Patschhändchen gegen seine linienlosen Fingerspitzen drückten.
Ich kann es gar nicht mehr erwarten. Ich hoffe nur, sie hat mich nicht vergessen.
Da berührte ein fremder Rücken den seinen - spitze Schulterknochen unter weichem Samt.
Duparcmieur.
«Warum hier?», fragte Corradino.
«Warum nicht?»
Das war nicht Duparcmieur. Was er da hörte, war keine französische Stimme, sondern der Zungenschlag eines venezianischen Adeligen. Wie vor einem Jahr in der Cantina «Do Mori» warf Corradino einen raschen Blick in den Spiegel neben ihm. Seine Eingeweide krampften sich vor Schreck zusammen.
«Ich bitte um Verzeihung für diesen ungewöhnlichen Treffpunkt», erklang erneut Baldasar Guilinis aalglatte Stimme. «Doch da ich Euch kenne, dachte ich, dass Euch diese angenehme Umgebung zusagen würde. Erinnert Ihr Euch noch an unsere frühere Begegnung?»
Corradino schluckte. Seine Gedanken flatterten durcheinander wie gefangene Motten. Er durfte sich nicht verraten.
«Im Schloss, Euer Exzellenz?»
«Ja, auch. Aber wir haben uns schon viel früher kennengelernt. Im Arsenale. Ihr wart mit Eurem Vater da - er unterzeichnete ein Handelsabkommen mit den Dardanellen. Ging es nicht um Safran? Oder war es Salz? Vergebt mir, aber die Einzelheiten sind mir entfallen. An Euren Vater erinnere ich mich allerdings noch sehr gut. Ein stattlicher Bursche. Ihr habt das Glück, ihm ähnlich zu sehen.» Der Gesandte setzte sich ein wenig anders hin. «Was für ein Pech, dass Ihr ihm auch beim Verrat an der Republik nacheifert.»
Corradinos Herz sank. In diesem Augenblick wusste er, dass es aus war.
Er hat mich erkannt. Jetzt bin ich so gut wie tot. Soll ich fliehen?
Corradinos Blicke huschten zu den lachenden Gästen hinüber. Jeder von ihnen konnte ein gedungener Mörder im Auftrag der Zehn sein. Es hatte keinen Zweck.
Als habe er seine Gedanken gelesen, fuhr der Gesandte fort: «Für Euch ist es natürlich zu spät. Aber wenn Ihr Euch entgegenkommend zeigt, rettet Ihr damit vielleicht Eure Tochter.»
Furcht drückte Corradino die Kehle zu.
Wie haben sie das erfahren? Lieber Gott, bitte, nicht Leonora.
«Was wollt Ihr damit sagen?», krächzte er in einem letzten verzweifelten Versuch, alles zu leugnen. «Was für eine Tochter?»
«Ich bitte Euch, Signor Manin! Die aus der Pietä natürlich. Leonora. Die Frucht Eurer amour mit ihrer Mutter Angelina dei Vescovi. Selbstverständlich wussten wir von dieser kleinen Affäre. Von dem Kind allerdings nicht. Ich nehme an, dem alten Fürsten Nunzio war die Angelegenheit peinlich. Was verständlich ist. Nein, diese Information verdanken wir Eurem Lehrer Giacomo Del Piero. Sein Mitteilungsbedürfnis kam für ihn allerdings zu spät.» Baldasar Guilini rümpfte die Nase, als läge ein unappetitlicher Geruch in der Luft.
Corradino stockte das Blut. Giacomo war tot! Nachdem er ebenso zum Verräter geworden war wie er selbst. Corradino konnte sich unschwer die Angst und Verzweiflung vorstellen, die Giacomo zweifellos zu diesem Schritt gezwungen hatten. Er bemühte sich, seiner Furcht Herr zu werden. Er musste Leonora retten, um jeden Preis!
«Was soll ich tun?», flüsterte er.
«Es bleibt Euch nur eines, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Wenn Ihr das tut, soll sie friedlich und unversehrt ihr Leben in der Pietä oder als Ehefrau verbringen.»
«Was? Guter Gott, was denn bloß? Ich werde alles tun.»
«Selbstverständlich ist uns bekannt, dass Ihr etwas von Eurem geheimen Wissen an einen Lehrling weitergegeben habt. Auch um ihn werden wir uns kümmern müssen.»
Mein Gott, nicht auch noch Jacques. Er ist doch noch so jung! Diese armen Männer, die meinen Verrat büßen, der eine am Anfang, der andere am Ende seines Lebens ... Sie verband derselbe Name, dieselbe Liebe zum Glas und die Freundschaft zu mir - zu dem Mann, der ihnen den Tod brachte.
«Was soll ich denn tun?» Corradino schrie jetzt beinahe und warf einen verzweifelten Blick in den Spiegel. Er hatte dieses Versteckspiel so satt!
Der Gesandte legte die Fingerspitzen beider Hände vor seinem Gesicht aneinander und blinzelte mit schweren Lidern. «Ihr müsst zurückkehren.»
Kapitel 35
Mitleid
Alessandro war vollkommen durcheinander. Benommen drängte er sich durch die Menschenmengen an der Riva degli Schiavoni und versuchte sich darüber klar zu werden, ob er nun wütend oder traurig war oder ein schlechtes
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