Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
Vom Netzwerk:
eingelassen hatte. Sie hatte ihm damals ihr Kind gebracht - es trug den Namen Roberto, nach Giacomos Vater - um ihn an sich zu binden. Doch Giacomo war zu seinem Glas zurückgekehrt, und die Frau war mit Roberto nach Vicenza gegangen. Jetzt saß sie hier in seiner Zelle, betrachtete ihn mit vorwurfsvollem Blick und hielt ihm ihr Kind entgegen. Er schaute sich das gewickelte Bündel näher an - und starrte in die klaffende Öffnung eines Kinderschädels, in dem es vor Maden nur so wimmelte. Die feuchte Luft dämpfte Giacomos Schreie.
    Zuweilen erschien ihm auch Corradino, der von einem Geheimnis erzählte, sich aber standhaft weigerte, es ihm zu verraten.
    Wenn er diese Erscheinungen hatte, rollte sich Giacomo klein wie eine Kugel zusammen, schlang die Arme um seinen kranken Körper und presste die Stirn an die glitschige Wand. So konnte er die Schatten nicht sehen, die in der Finsternis auf ihn zu lauern schienen.
    In seinen lichten Augenblicken, wenn sich sein Geist klärte, wusste er, dass er sehr krank war. Sein Husten hatte sich zu quälenden, krampfartigen Anfällen gesteigert, seine Brust schien in einem Schraubstock festzustecken, und jüngst hatte er beim Husten den Geschmack von Blut auf der Zunge gepürt. Er wünschte sich sehnlichst    einen Glasdolch - am besten einen von Corradino -, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
    Tage später, wann genau wusste er nicht, sprach ihn eine eiskalte Stimme an.
    «Du leidest entsetzlich.» Es war eine Feststellung, keine Frage.
    Giacomo wandte sich von der Wand ab, die sein Zufluchtsort geworden war. Das Licht einer Kerze erhellte die Zelle. Giacomos Erleichterung war jedoch nicht von langer Dauer. In einer Ecke, tief im Schatten verborgen, erblickte er das Gespenst aus seinen Albträumen. Doch mittlerweile war er an die Spukgestalten gewöhnt. Auch diese würde wieder verschwinden, wenn er sich nur eng genug an seine Wand presste.
    Er wollte sich erneut zusammenrollen.
    «Schau her, ich bin wirklich! Ich bin keines deiner Phantasiegebilde. Ich kann mich gnädig zeigen. Kann dir Nahrung und Wasser bringen, dich sogar freilassen, wenn du mir verrätst, was ich wissen will.»
    Ein paar Sekunden lang brachte Giacomo kein Wort heraus, so schwach war seine Stimme vom Husten und Schreien.
    Die Gestalt nahm sein Zögern als Zeichen von Widerstand, doch in Wahrheit hätte Giacomo dem anderen alles gesagt was er hören wollte - wenn er nur gekonnt hätte.
    «Weißt du, warum es niemandem gelingt von hier zu fliehen?»
    Giacomo wusste es nur zu gut. Verzweifelt versuchte er, ja zu sagen, nur damit er es nicht noch einmal hören musste.
    «Weil ein Wächter, der einen Gefangenen entkommen lässt, dessen Strafe verbüßen muss.» Endlich gelang Giacomo ein Krächzen. «Ich weiß.»
    Die gesichtslose Gestalt mit der Kapuze neigte den Kopf.
    «Dir ist also klar, dass ich deine einzige Hoffnung bin.»
    Hoffnung. Wie sollte einem der Teufel Hoffnung bringen?
    «Wir sind nach Sant' Adriano gegangen, zum Grab deines Freundes. Und weißt du, was wir gefunden haben?»
    Schweigen.
    «Erde und zerrissene Sackleinwand. Dein Freund ist fort.»
    Als Giacomo die Wahrheit dämmerte, war es ihm, als risse eine Wolkendecke auf. Non omnis moriar. Corradino war in der Tat nicht gänzlich gestorben. Giacomo hätte singen mögen. Seine leise Hoffnung, die die lateinischen Worte damals in ihm geweckt hatten, hatte sich erfüllt. Sein Sohn war noch am Leben. Trauere nicht um mich - das war es, was Corradino ihm mit seiner Nachricht hatte sagen wollen. Gepriesen sei Gott! Zum ersten Mal seit Monaten fühlte Giacomo die eisige Kälte, die in der Zelle herrschte, nicht. Doch dann fuhr die Stimme fort:
    «In jener Nacht fuhr ein Schiff von Mestre nach Marseille. Zwei Männer gingen an Bord. Sie waren mit einem Fischerkahn gekommen, in dem man frische Erde fand. Dein Freund Corrado Manin ist nach Frankreich gegangen. Er ist derjenige, den wir suchen.»
    Die Freude und Erleichterung, die wie eine Woge über den Alten hinwegspülte, versickerte rasch. Ein bitterer Geschmack wie von Galle blieb in seinem Mund zurück, als ihm klar wurde, was Corradino ihm angetan hatte. Ihm, den anderen Vetraie von Murano und der Kunst des Glas- und Spiegelmachens, der er sein Leben    geweiht hatte. Giacomo schössen Tränen in die ausgetrockneten Augen. Doch es waren nicht die kalten Tränen des Kummers, sondern die heißen Tränen der Wut. Ich werde nicht gänzlich sterben. Nein, aber mich hast du getötet und unser

Weitere Kostenlose Bücher