Die Glasblaeserin von Murano
traurig zu sein. Hatte es satt, sich heiter und unbeschwert zu geben, ausgerechnet vor den Freunden, die doch wussten, dass sie durch Stephens Verrat am Boden zerstört war. Und diese nervenaufreibende Aufteilung ihres gemeinsamen Besitzes, die hatte sie auch satt. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie aufgeregt sie gewesen waren, als sie dieses Haus gefunden und gekauft hatten, damals zu Beginn ihrer Ehe. Stephen hatte gerade eine Stelle am Royal Free Hospital angetreten. Eigentlich war Nora der Meinung gewesen, Hampstead sei viel zu vornehm für eine Dozentin der Glas- und Keramikkunst. «Nicht, wenn sie einen Chirurgen heiratet», hatte ihre Mutter trocken erwidert. Das Haus trug sogar einen Namen: Belmont. Nora war überhaupt nicht an Häuser gewöhnt, die so prächtig waren, dass sie einen eigenen Namen erhielten. Doch in diesem Fall war er durchaus passend: Das Haus befand sich auf der malerischen Anhöhe, die zum Stadtteil Hampstead führte. Es war ein Musterbeispiel der klassisch-herrschaftlichen georgianischen Architektur - quadratisch, weiß und ebenmäßig. Das Haus hatte es Nora und Stephen sofort angetan, also kauften sie es und waren dort, wenigstens für eine Weile, sehr glücklich. Ich sollte wahrscheinlich froh sein, dachte Nora, denn zumindest gibt mir der Erlös aus dem Verkauf des Hauses eine gewisse Sicherheit. Sicherheit - welch Ironie!
Ich habe mich nie weniger sicher gefühlt, nie verwundbarer. So einsam war ich noch nie, als hätte mich die ganze Welt verlassen ...
Wie schon unzählige Male zuvor prüfte sie eingehend ihr Spiegelbild, als könnte es ihr einen Hinweis darauf geben, warum Stephen sie verlassen hatte: zwei Augen, groß und von unbestimmtem Grün. Haar, strohblond und lang. Haut, olivenfarben. Lippen, rissig wie immer, wenn sie voller Selbstzweifel daran genagt hatte. Sie gab es auf. Es konnte nicht an ihrem Äußeren gelegen haben. Trotzdem tröstete es sie nicht im Geringsten, dass sie jünger, blonder und durchaus auch hübscher war als Stephens Geliebte. Er hatte sich in eine brünette Vierzigjährige verliebt, die in der Krankenhausverwaltung arbeitete und streng geschnittene Kostüme trug. Carol. Ihr genaues Gegenteil. Carol würde ganz gewiss niemals in einem alten T-Shirt mit Brooklyn-Dodgers-Aufdruck zu Bett gehen, die Haare in einem strubbeligen Zopf zusammengefasst.
«Er hat mich immer seine Primavera, seinen Frühling genannt», sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Sie erinnerte sich noch, wie sie und Stephen auf ihrer Hochzeitsreise das Botticelli-Gemälde in Florenz gesehen hatten. Sie waren beide ganz bezaubert gewesen von der Gestalt der Flora in ihrem fließenden weißen, blumenbedeckten Gewand, von ihrem leisen, verschlossenen Lächeln, das so schön und geheimnisvoll war. Mit ihren glänzenden blonden Haarsträhnen und den halb geschlossenen grünen Augen sah sie Nora verblüffend ähnlich. Stephen hatte Nora vor das Bild geführt und ihr Haar gelöst, während sie verlegen versuchte, sich von ihm loszumachen. Sie wusste noch, dass die Italiener «bellissima» ausgerufen und die Japaner Fotos von ihr geschossen hatten. Stephen hatte ihr einen Kuss gegeben und ihr sanft die Hand auf den Bauch gelegt. «Du wirst ihr noch mehr gleichen, wenn du erst...»
lebten sehr gesund, Nora joggte regelmäßig, und Stephen ging mit Begeisterung ins Fitnessstudio. Ein Glas Rotwein hin und wieder war ihre einzige Schwäche. Doch auch das schränkten sie wegen der erwünschten Schwangerschaft bald ein. Als ein Jahr vergangen war, suchten sie einen Kollegen von Stephen am Royal Free Hospital auf, einen rundlichen, fröhlichen Aristokraten, der immer eine Fliege trug. Sie ließen unzählige Termine und Tests über sich ergehen, doch vergeblich. Etwas Konkretes war nicht auszumachen. «Unspezifische Infertilität» lautete die Diagnose.
«Es gibt kein Medikament, das in eurem Fall hilft. Ihr könnt es genauso gut mit blauen Smarties probieren wie mit jedem anderen Mittel auch», sagte der Kollege flapsig. Nora hatte geweint. Sie war die längste Zeit Stephens Primavera gewesen, die Verheißung, die der Frühling versprach, hatte sich nicht erfüllt.
Sie unterzogen sich einer ganzen Reihe aufwendiger, belastender Prozeduren. Diese Verfahren, mit Abkürzungen wie HSG, FSH oder IVF, hatten nichts mit Liebe, Natur oder dem Wunder der Empfängnis zu tun. Stattdessen ließen sie die Schwangerschaft bald zu einer fixen Idee werden. Nora und Stephen verloren dabei ihre Liebe aus den
Weitere Kostenlose Bücher