Die Glasblaeserin von Murano
sie eine besondere Begabung für Kunst zeigte. Ihre Versuche in Bildhauerei fanden vor allem die Unterstützung von Elinor, die in ihrer Tochter schon die Nachfolgerin Michelangelos sah. Doch weder konnte Elinor das Schicksal lenken, noch konnte Nora den Ruf ihrer Vorfahren überhören, die ihr Recht forderten.
Während Nora an der Kunstschule in Wimbledon studierte, traf sie eine Gastdozentin, die in Snowdonia eine eigene Glaswerkstatt besaß. Gaenor Davis war Mitte sechzig und fertigte Glaskunstwerke, die sie in London verkaufte. Sie weckte Noras Interesse an Glas und seiner Herstellung. Noras Begeisterung für das Handwerk steigerte sich noch, als sie ihre ersten rosa-goldenen Glasblasen zustande brachte. Ihr Können wuchs während des Sommermonats, den sie in Gaenors Werkstatt verbrachte, von Tag zu Tag. Sie identifizierte sich immer mehr mit dem Material, dem sie mit Phantasie und Ehrgeiz die verschiedensten Formen gab. Mehr noch, sie erkannte sich selbst in dem Glas wieder. Dieses eigenartige Material war zugleich flüssig und fest, von klarer Struktur und doch unterschiedlichen Eigenschaften unterworfen. Es gewährte eine kurze Zeitspanne, in der es sich geschmeidig formen ließ, bevor es abkühlte und zu endgültiger Gestalt erstarrte, bis die Hitze es erneut zum Leben erweckte. Elinor beobachtete, wie die besondere Begabung ihrer Tochter zutage trat, und wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass sich das Erbe Venedigs nicht so leicht abschütteln ließ. Es drängte mehr und mehr an die Oberfläche.
Doch zunächst wandte sich Nora einem anderen Interessensgebiet zu - sie entdeckte die Männer. Nachdem sie mit dem männlichen Geschlecht während ihrer gesamten Kindheit und Jugend kaum in Berührung gekommen war, stellte sie nun fest, dass Männer durchaus interessante und begehrenswerte Seiten hatten. Von der Bitterkeit ihrer Mutter war nichts auf sie übergegangen, und so umgab sie sich mit einem großen Kreis männlicher Bekannter, mit denen sie gerne und unbefangen schlief.
Doch schließlich bekam sie die Männer aus der Kunstszene über. Sie hatten keine Ziele, keine Ideale und kannten kein Verantwortungsgefühl. Als sich Nora am Central St. Martin's College auf ihren Master-Abschluss in Keramik- und Glaskunst vorbereitete, war die Zeit reif für einen Mann wie Stephen Carey. Sie begegneten sich zum ersten Mal in einer Bar in Charing Cross, und Nora fühlte sich sofort zu ihm hingezogen.
Als Arzt und Wissenschaftler war er das genaue Gegenteil von Noras Freunden aus Künstlerkreisen. Er trug einen Anzug und hatte eine einflussreiche, gut bezahlte Stellung am Charing Cross Hospital inne. Er sah manierlich und gut aus - kein Dreitagebart, keine Siebziger-Jahre-T-Shirts mit albernen Motiven, keine Skaterklamotten. Ihre Beziehung entwickelte sich umso rasanter, als auch Stephen sich stark zu Nora hingezogen fühlte. Sie war eine schöne, geistig unabhängige Künstlerin, die sich ausgefallen kleidete und ihm eine Welt erschloss, die er bislang nicht gekannt hatte.
Elinor seufzte insgeheim über die Beziehung zwischen den beiden. Zwar mochte sie Stephen sehr gerne, und seine guten Manieren und seine Cambridge-Ausbildung gefielen ihr, doch sie erkannte sehr genau, was da vor sich ging. Nora hatte sich eine Vaterfigur gesucht, was Schwierigkeiten versprach. Aber was sollte Elinor dagegen machen?
Sie gab ihrer Tochter das Glasherz - das Einzige, was ihr von Bruno geblieben war - und erzählte ihr, was sie über ihren Vater und dessen Familie, insbesondere über den berühmten Corradino Manin wusste. Ihre Tochter sollte wissen, woher die Vorlieben und Talente stammten, die in ihr weiterlebten. Doch Nora zeigte nur ein flüchtiges Interesse daran, so sehr war sie erfüllt von ihrer Liebe zu Stephen. Sie machte ihren Master-Abschluss und trat eine Stelle als Lehrerin an. Stephen bekam die Gelegenheit, sich am Royal Free Hospital als Chirurg zu spezialisieren, und so gab es nur noch eins, das ihr Glück perfekt machte: ihre Hochzeit. Sie feierten ein großes, traditionelles Fest in Norfolk, das von Stephens wohlhabender Familie ausgerichtet wurde. Elinor ließ die Zeremonie in ihrem neuen grünen Kleid und mit einem überdimensionalen, schicken Hut seufzend über sich ergehen.
Auf Elinors Rat hin machte das junge Paar seine Hochzeitsreise nach Florenz. Während Nora, verzaubert von der reichen Kultur Italiens, nicht genug bekommen konnte, hatte Stephen Mühe, seinen Unmut zu verbergen.
Vielleicht
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