Die Glasblaeserin von Murano
hätte ich schon damals merken müssen, dass etwas nicht stimmte.
Nora musste daran denken, wie sehr Stephen den Verkehr und das Touristengewimmel in Florenz verabscheut hatte. Er ärgerte sich darüber, wenn Nora in ihrem mühsam erworbenen Italienisch mit den Einheimischen plauderte. Fast schien es, als nehme er ihr ihre Herkunft übel - als fühle er sich davon bedroht. Nach jenem ebenso kurzen wie untypischen Anflug von Romantik vor dem Botticelli-Gemälde steckte er ihr eigenhändig das Haar wieder auf. Er sagte, es errege auf der Straße zu viel unerwünschte Aufmerksamkeit. Doch auch mit hochgesteckten Haaren erntete Nora bewundernde Blicke von jungen Männern in tadellos sitzenden Anzügen, die in Rudeln von fünf oder zehn die Straßen durchstreiften, ihre Sonnenbrille hoben und Pfiffe ausstießen.
Stephen störte es auch, dass sie sich wieder Leonora nannte; seiner Meinung nach war das zu ausgefallen, wie einem Kitschroman entsprungen. Als Künstlerin - sie stellte ihre Glaskunstwerke in kleinen Londoner Galerien aus - hatte sie den Namen Manin beibehalten. Ihr Scheckbuch und die Geldkarten trugen dagegen den Namen Carey.
Nora fragte sich, ob Stephen den Namen Nora Manin womöglich nur deshalb akzeptiert hatte, weil er einigermaßen englisch klang. Ohne einen der weichen, verräterischen Vokale am Ende kam er nur den wenigsten Menschen italienisch vor.
Klammere ich mich jetzt deshalb so sehr an meine italienische Seite? Weil Stephen sie immer abgelehnt hat?
Nora griff nach dem Make-up-Täschchen und suchte darin nach ihrem Talisman. Schließlich entdeckte sie ihn zwischen der Wimperntusche und den Tiegelchen mit Lidschatten. Sie legte das funkelnde Glasherz auf ihre Handfläche und betrachtete es voller Bewunderung. Es sah aus, als hielte es das Licht der Neonröhre in sich gefangen.
Nora fädelte ein dunkelblaues Samtband durch das Loch in der Einkerbung und band es sich um den Hals. In den vergangenen fürchterlichen sechs Monaten war das Herz ihr Rosenkranz geworden, ihr Glücksbringer für die Hoffnungen, die sie auf die Zukunft setzte. Immer wenn sie um vier Uhr in der Frühe erwachte und weinen musste, nahm sie es in die Hand und redete sich ein, sie brauche nur nach Venedig zu fahren, dann würde alles wieder gut.
An den zweiten Teil ihres Plans wollte sie am liebsten gar nicht denken. Sie hatte niemandem davon erzählt und mochte das Ganze noch nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen, da es ihr zuweilen wie eine lächerliche Spinnerei erschien.
«Ich fahre nach Venedig und arbeite als Glasbläserin. Das ist mein Geburtsrecht.» Sie sagte es zu ihrem Spiegelbild , deutlich und voller Trotz. In der Stille der Nacht klangen ihre Worte unnatürlich laut und ließen sie zusammenzucken. Doch dann umfasste sie das Herz ein wenig fester und schaute entschlossen noch einmal in den Spiegel. Es kam ihr so vor, als sehe sie schon etwas tapferer aus, und das heiterte sie ein wenig auf.
Kapitel 3
Corradinos Herz
In den Stein war eine Inschrift gemeißelt.
Die Worte auf der Platte, die das Waisenhaus der Pieta zierte, traten im grellen Mittagslicht gestochen scharf hervor. Corradino fuhr mit den Fingern über die Vertiefungen der Buchstaben. Er kannte die Worte gut:
«Fulmine il Signor Iddio maledetione e scomuniche ... Möge der Fluch Gottes, des Herrn, und die Exkommunikation all jene strafen, die ihre Söhne und Töchter in dieses Waisenhaus der Pieta geben, obgleich sie über die Mittel verfügen, die Kinder aufzuziehen.»
Hast du die Worte gelesen, Nunzio dei Vescovi, du alter Schurke? Vor sieben Jahren auf den Tag genau, als du dein einziges Enkelkind hier zurückließest? Hattest du damals ein schlechtes Gewissen? Hast du aus Furcht vor Gott und vor dem Papst über die Schulter geschaut, als du davongeschlichen bist in deinen Palast, zu deinen Truhen voller Gold?
Corradino blickte hinunter auf die ausgetretenen Stufen und stellte sich vor, wie das neugeborene Mädchen, in Windeln gewickelt, dort gelegen hatte, noch feucht von der Geburt, die seine Mutter das Leben gekostet hatte. Corradino ballte die Fäuste, bis ihm die Fingernägel ins Fleisch drangen.
Ich will nicht an Angelina denken.
Er drehte sich um und versuchte, im Anblick der friedlichen Lagune sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Er liebte es, die Stimmungen des Wassers zu erkunden. Heute, da die Sonne schien, erinnerten ihn die Wellen an seine ghiaccio-Arbeiten, bei denen unterschiedliche
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