Die Glut des Zorns (Billy Bob Holland) (German Edition)
unwillkürlich. Als ich seinen Hals betastete, öffnete er die Augen und versuchte zu atmen, und ein hartes Stück Kaugummi fiel aus seinem Mund.
Der Prediger kauerte sich neben ihn und schaute ihm ins Gesicht. Mit den Fingerspitzen tätschelte er die Brust des Mannes.
»Du musst nicht reden. Ich spreche die Worte für dich. ›Ich befehle meinen Geist in die Hände des Herrn.‹ Das Gebet ist so einfach, mein Sohn. Hab keine Angst. Jetzt kann dir nichts Schlimmes mehr geschehen«, sagte der Prediger.
Temple und ich gingen auf den Hinterhof. Das Scheunentor stand offen, und ich sah Carl Hinkel, der an einen Stuhl im Schlägerkäfig gefesselt war. Der Boden rund um seine Füße war mit abgewetzten Basebällen übersät. Hinkels Gesicht sah nicht mehr menschlich aus.
Xavier Girard saß an einem Holztisch und trank aus einem großen roten Plastikbecher, in dem Eis klirrte und der nach Minzblättern und Bourbon roch. Sein Gesicht wirkte selig und verzückt. Eine .22er Ruger-Automatik und zwei Reservemagazine lagen neben seinem Oberschenkel.
»Wo ist Molinari?«, fragte ich.
»In der Dusche. Er hätte es fast zu seinen Klamotten geschafft. Er hätte mir Ärger machen können«, erwiderte er.
»Haben Sie Hinkel getötet?«, sagte ich.
»Na klar. Zwei Schuss. Ins Ohr.«
Xavier beugte sich vor und spähte aus der Tür zu dem Prediger, der sich über den Mann im Gras neigte. Xavier lächelte versonnen und blickte dann erwartungsvoll zu mir und Temple auf, als hätte er sich irgendwie von den Lasten eines öden Daseins befreit und wartete darauf, dass wir ihn in ein neues Leben geleiteten.
»Warum haben Sie die Frau umgebracht?«, fragte Temple.
»Franks Frau?« Xavier schien die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen. »Yeah, die hat’s auch erwischt, nicht wahr? Es ist schwer, die Flasche hinzustellen, wenn sie noch halb voll ist. Was für ein Rausch. Ich bin immer noch high davon.«
Der Wind zerrte am Scheunentor. Die Luft war kühl und roch nach Pferden, Luzernen und fernem Regen über den Bergen. Ich wollte nicht mehr hier herumstehen, inmitten des Werks, das Xavier Girard in seinem trunkenen Wahn vollbracht hatte.
Xavier griff zu der .22er, legte sie auf seinen Oberschenkel und rieb mit den Fingerspitzen über die geriffelten Griffschalen.
»Molinari hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. ›Bestellen Sie dem Anwalt, dass wir quitt sind‹, hat er gesagt. Was hat er Ihrer Ansicht nach damit gemeint?«, fragte er.
»Wollen Sie mit der Ruger noch irgendwas anstellen?«, sagte ich.
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Doch, haben Sie«, sagte ich. Ich gab Temple L. Q.s .45er, ergriff Girards Pistole und nahm sie ihm aus der Hand, zog das Magazin heraus, warf die Patrone in der Kammer aus und schleuderte die Pistole auf den Hof vor der Scheune. Ich steckte mir die Reservemagazine und die ausgeworfene Patrone in die Hosentasche, kippte seinen Schnaps mitsamt derEiswürfel in den Staub und stellte den leeren Becher neben ihn; dann gingen Temple und ich hinaus in den Wind, die Sonne und den Donner, der in den Hügeln grollte.
»Zitieren Sie mich nicht, was den Rausch angeht. Das war vertraulich«, rief uns Girard hinterher.
Temple und ich mussten den Sheriff des Ravalli County nach Hamilton begleiten, und danach fuhren wir zu Docs Haus am Blackfoot zurück. In Idaho brannte der Wald, und der Himmel im Westen war voller rotem Rauch, aber über dem Blackfoot Valley ging aus heiterem Himmel ein Regenschauer nieder, und die Wipfel der Bäume am Fluss leuchteten golden in der Sonne, und an den Hängen blühten ganze Teppiche aus Lupinen und Kastilleen.
Ich hätte mir die Bilder und Geräusche von Molinaris Ranch am liebsten von der Seele geschrubbt. Aber ich wusste, dass ich in dieser Nacht von Toten träumen würde, von dem allgemeinen Irrsinn, der Menschen dazu brachte, einander umzubringen und ihre Taten unter jedem nur erdenklichen Vorwand zu rechtfertigen, sei es eine Flagge, ein Banner oder ein Kreuzzugsgedanke. Zahllose Menschen waren vermutlich froh, dass Carl Hinkel und Nicki Molinari tot waren, und jeder von ihnen würde für sich eine Begründung finden und behaupten, es hätte einem höheren Zweck gedient. Aber ich war schon immer der Ansicht, dass man die eigentliche Wahrheit der Menscheitsgeschichte eher in den Fußnoten als im Text findet.
Carl Hinkel würde von seinen Anhängern verherrlicht und dann durch jemand anderen ersetzt werden, der genauso war wie er,
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