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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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sich, küsste der Dame die Hand und führte sie in den Nebenraum, wo seine Begleitung im Halbkreis herumstand. Er führte die Frau zum Gardeoffizier und küsste ihr noch einmal die Hand.
    »Wovon habt ihr geredet?«, fragte der Gardeoffizier seine Frau später, viel später.
    Doch die Frau sagte es nicht. Nie erfuhr jemand, was der König zu der Frau gesagt hatte, die aus der Fremde kam und beim Tanzen weinte. Was in der Gegend noch lange zu reden gab.

4

    Das Haus schloss alles ein, wie ein großes steinernes Prunkgrab, in dem die Knochen von Generationen modern, von Frauen und Männern früherer Zeiten in Totengewändern aus allmählich zerfallender grauer Seide oder schwarzem Tuch. Es schloss auch die Stille ein wie einen wegen seines Glaubens verfolgten Häftling, der benommen, bärtig und zerlumpt im Kellerverlies schmachtet, auf schimmligem, verrottetem Stroh. Es schloss auch die Erinnerungen ein, die Toten galten. Die Erinnerungen lauerten in den muffigen Winkeln der Räume, so wie in den feuchten Kellern alter Häuser Pilze, Fledermäuse, Ratten und Käfer zu finden sind. An den Türklinken war das Zittern einer Hand, die Erregung eines lang vergangenen Augenblicks zu spüren, und die eigene Hand zögerte, die Klinke hinunterzudrücken. Jedes Haus, in dem die Leidenschaft die Menschen mit voller Wucht gepackt hat, ist mit solchen unfassbaren Wesen gefüllt.
    Der General betrachtete das Bild seiner Mutter. Er kannte jeden einzelnen Zug des schmalen Gesichts. Die Augen blickten mit schläfriger, trauriger Verachtung in die Zeit hinaus. Mit einem solchen Blick hatten Frauen früherer Zeiten das Blutgerüst bestiegen, voller Verachtung für die, um derentwillen sie starben, und auch für die, die ihnen den Tod gaben. Die Familie seiner Mutter besaß in der Bretagne ein Schloss am Meer. Der General mochte acht Jahre alt gewesen sein, als man ihn eines Sommers dorthin mitnahm. Damals reisten sie schon im Zug, allerdings sehr langsam. Im Gepäcknetz lagen die mit den Initialen seiner Mutter versehenen bestickten Reisekoffer in ihren Leinenhüllen. In Paris regnete es. Das Kind saß in einem Wagen, der mit blauer Seide ausgeschlagen war, sah durch die dunstigen Scheiben hindurch die Stadt, die im Regen wie der Bauch eines dicken Fisches schlüpfrig glänzte. Er sah hoch aufragende Hausdächer, hohe Kamine, die schräg in die schmutzigen Vorhänge des nassen Himmels ragten und die das Geheimnis ganz anderer und unverständlicher Schicksale zu verkünden schienen. Frauen gingen lachend durch die Nässe, lüpften mit einer Hand ihre Röcke, ließen die Zähne blitzen, als wären der Regen, die fremde Stadt, die französische Sprache etwas Lustiges und Wunderbares, das nur das Kind nicht verstehen konnte. Er war acht Jahre alt und saß ernsthaft in der Kutsche neben seiner Mutter, gegenüber der Zofe und der Gouvernante, und er spürte, dass ihm etwas aufgegeben war. Alle beobachteten ihn, den kleinen Wilden, der von fernher kam, aus dem Wald mit den Bären. Die französischen Wörter sprach er mit Bedacht aus, vorsichtig und sorgfältig. Er wusste, dass er jetzt auch im Namen seines Vaters, des Schlosses, der Hunde, des Waldes und der zurückgelassenen Heimat sprach. Ein Tor ging auf, der Wagen fuhr in einen großen Hof ein, vor breiten Treppen verbeugten sich französische Diener. All das schien ein bisschen feindselig. Er wurde durch Räume geführt, in denen alles peinlich genau und bedrohlich an seinem Platz stand. Im großen Saal des ersten Stocks empfing ihn die französische Großmutter. Sie hatte graue Augen und schwarzen Flaum auf der Oberlippe; ihr Haar, das einst rot gewesen war und jetzt in eine Schmutzfarbe spielte, als hätte die Zeit vergessen, es zu waschen, trug sie hochgesteckt. Sie küsste das Kind und bog mit ihren knochigen weißen Händen seinen Kopf etwas nach hinten, um sein Gesicht von oben zu betrachten. »Tout de méme«, sagte sie zu seiner Mutter, die besorgt neben ihm stand, als wäre er im Examen, als würde sich jetzt gleich etwas herausstellen. Später wurde Lindenblütentee gebracht. Alles roch so seltsam, dem Kind wurde es schwindlig. Gegen Mitternacht begann es zu weinen und zu erbrechen. »Ich will Nini haben«, sagte der kleine Junge tränenerstickt. Totenbleich lag er im Bett.
    Anderntags hatte er hohes Fieber und redete wirr. Feierliche Ärzte trafen ein, in schwarzem Gehrock, mit einer Uhrkette im mittleren Knopfloch der weißen Weste; sie beugten sich über das Kind, und aus

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