0767 - Das Grauen von Milford Sound
Eine Woche zuvor
»Müssen wir da wirklich hin?«, fragte Robert Bender seufzend.
Karin Schellmann antwortete nicht. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre schlanken Finger krampften sich um das Lenkrad.
Der Asphalt war schneebedeckt und glatt, auf den Bäumen lag Raureif. Das schnurgerade Band der Straße teilte die märchenhafte Winterlandschaft und verlor sich im Nebel zwischen den Bergen.
Robert steckte sich eine Zigarette an und warf einen Blick auf den Plan. »Hundert Kilometer durch die Einsamkeit - und das alles nur, um eine Bucht am Ende der Welt zu sehen?«
»Milford Sound ist nicht irgendeine Bucht«, sagte Karin in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie schaltete die Belüftung auf die höchste Stufe. Robert, der sehr wohl verstanden hatte, drückte die Zigarette im Ascher aus und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. »Du hast keinen Sinn für Schönheit«, schimpfte sie. »Ich hätte dich zu Hause lassen sollen.«
Diesmal war er es, der auf eine Erwiderung verzichtete. Weil er ihr im Grunde Recht geben musste.
Karin war unternehmungslustig und von einer schier unstillbaren Neugier getrieben, während er sich eher als Phlegmatiker beschrieben hätte. Zu träge, um einen Urlaub in Neuseeland zu planen, aber flexibel genug mitzufahren, wenn ihm jemand anderer die Arbeit abnahm.
Dabei hatte die Umgebung tatsächlich ihren Reiz, der mit Worten schwer zu erfassen war. Die Landstraße, die sich entlang des von mächtigen Bergrücken eingeschlossenen Lake Te Anau hinauf zum Sound wand, wirkte wie das letzte Mahnmal der Zivilisation inmitten einer fast unberührten Landschaft.
»Milford Sound, eine der letzten naturbelassenen Buchten an der Westküste Südneuseelands«, übersetzte er eine Passage aus dem englischen Reiseführer. »Auf dem Seeweg zufällig entdeckt, war der Sound jahrelang nur über die Wasserstraße zum Tasmanischen Ozean zu erreichen. Genießen Sie die Fahrt entlang der Earl Mountains über den Cascade Creek und durch den Homer-Tunnel… Schatz, mir graust es bei dem Gedanken, dass wir die ganze Strecke auch noch wieder zurückfahren müssen!« Er deutete auf die Karte. »Der Sound ist nur ein paar Dutzend Kilometer von Queenstown entfernt. Aber statt einer Querverbindung gibt es nur den Umweg zurück über Te Anau, das sind ungefähr zweihundert Kilometer.«
»Wahrscheinlich haben sie mit Absicht keine Durchfahrtsstraße gebaut«, antwortete Karin. Sie dachte mit Grausen an Queenstown, wo sie heute übernachten wollten. Vor Jahren noch ein kleines Dorf in idyllischer Lage, war es inzwischen von Touristenscharen in ein Mekka des Kommerz und Freizeitsports verwandelt worden. Es gab nichts, was man in Queenstown nicht tun konnte: Rudern, Skifahren, Snowboarden, Raften. Das Bungee-Jumping war sogar dort erfunden worden.
»Die Straße führt bis in zweitausend Meter Höhe«, jammerte Robert, »davon bekomme ich bestimmt wieder Ohrensausen.«
»Das dürfte das geringste Problem sein. Siehst du die Berghänge rechts? Wir haben bereits die Schneegrenze passiert.«
»Umso schlimmer, dann schliddern wir anschließend ins Tal.«
Sie verdrehte die Augen. »Du kannst einem wirklich jeden Spaß verderben.«
»Schon gut. Ich werde mir eine Mütze Schlaf gönnen. Weckmich, wenn wir angekommen sind.«
»Banause!«, sagte sie lachend.
Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss das monotone Brummen des Motors.
Er konnte ja nicht ahnen, dass sie im Sound der Tod erwartete.
***
Erschrocken öffnete er die Augen. »Was ist los?«
Karin war auf die Bremse getreten und deutete nach vorn. »Da auf dem Parkplatz. Ein Kamerateam.«
Noch bevor er etwas erwidern konnte, stieg sie aus.
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Fünfzehn Kilometer vor dem Homer-Tunnel.«
Kopfschüttelnd folgte er ihr. Als ob ihm diese Information weitergeholfen hätte.
Karin begrüßte das Paar, das auf dem Parkplatz stand. Der Mann, ein bärtiger Riese mit einem dichten schwarzen Vollbart, trug eine TV-Kamera auf der Schulter, die Frau ein Mikrofon in der Hand. Sie war etwas größer als Karin und hatte langes blondes Haar. Robert versuchte dem Wortwechsel zu folgen und kapitulierte. Der Slang der Neuseeländer war nicht für seine Ohren gemacht.
»Sie kommen vom Regionalfernsehen und machen den Wetterbericht«, erklärte Karin.
Der Mann lachte Robert an und winkte ihn zu sich.
»Er sagt, wir sollen uns an das Geländer stellen. Sie wollen ein Interview machen. Über das Wetter.«
Er
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