Die Glut
Guss geschrieben, und doch spiegelt der Roman das zersplitterte Leben seines Autors. Ein Leben, von den historischen Ereignissen direkt beeinflusst: Sándor Márai, geboren 1900 am Zusammenfluss deutscher und ungarischer Kultur, in Kaschau (ungarisch Kassa), das nach dem Ersten Weltkrieg an die Tschechoslowakei fällt. In Budapest, wo er seine Studienzeit beginnt, stehen die Zeichen ebenfalls auf radikale Veränderung - von der Monarchie zur linksgerichteten Räterepublik zum rechtsgerichteten Horthy-Regime; Márai hat das Gefühl, vor seinen Augen »falle alles auseinander«. Er verlässt Ungarn, belegt Kurse am Leipziger Institut für Zeitungskunde, zieht weiter nach Frankfurt am Main, wo er für die Frankfurter Zeitung zu schreiben beginnt - auf deutsch: aus einer geadelten sächsisch-mährisch-ungarischen Bürgerfamilie stammend, ist Márai in der deutschen und der ungarischen Sprache gleicherweise zu Hause. Nach einem Aufenthalt in Berlin zieht er 1923 zusammen mit seiner ebenfalls aus Kaschau stammenden jungen Frau nach Paris. Von dort berichtet er weiter für die Frankfurter Zeitung, führt ein westeuropäisches Nomadenleben, liest die großen Zeitgenossen, von denen er Kafka, Trakl, Benn, Lasker-Schüler ins Ungarische übersetzen wird. Aus seiner Feder stammt auch die erste ungarische Würdigung Kafkas, die 1922 in der Kaschauer Zeitung erscheint. 1927 legt er einen Bericht von seinen Reisen im Nahen Orient vor: Auf den Spuren der Götter. Der Roman einer Reise. In seiner 1930 erschienenen Gedichtsammlung heißt es aber: »... auf einem dunklen Platz in Luxor brach ich in Tränen aus, weil mich ein Araber auf ungarisch ansprach, und manchmal gab ich Franzosen grobe Antworten und schrie, ich sei Ungar, was zum Teufel denn sonst?«
Also zurück nach Ungarn, um in dieser Sprache zu schreiben - nicht etwa, um ein Heimatgefühl zu pflegen, das endgültig verloren ist. Es beginnt ein höchst arbeitsames Schriftstellerleben: Lyrik, Prosa, Dramen und, Márais Spezialität, publizistisch-essayistische Werke wie Die Schule der Armen (1933) oder Land, Land (ein Teil des Tagebuchs von 1945/47, erschienen 1971 in Toronto), in denen er mit unbestechlicher Luzidität den mitteleuropäischen Stand der Dinge kommentiert und mit seinem eigenen Gefühl der doppelten Fremdheit vergleicht, das sich in Ungarn genauso wie im Ausland manifestiert. Mit den autobiographisch gefärbten Bekenntnissen eines Bürgers (1934) kommt der erste große Erfolg. Ein geachteter zeitgenössischer Kritiker schreibt: »Womit lässt sich die wachsende Popularität dieses demonstrativ einsamen Schriftstellers erklären? Doch wohl mit der Tatsache, dass auf dem Grunde seiner Texte existentielle Fragen stehen.«
Fragen, wie sie in der Glut (1942 erschienen) nachdrücklich thematisiert sind, und das um so nachdrücklicher, als hinter dem einheitlichen - einheitlich rhythmischen und plastischen - Stil eine Mehrzahl von Meinungen, Sprachen, Weltanschauungen und auch Erzähltechniken verborgen sind. Der General selbst, Protagonist und über eine weite Strecke Erzähler der Geschichte und also scheinbar im Mittelpunkt fixiert, ist schwer auf eine Identität festzulegen. Einmal scheint er der Doppelgänger seines kernigen Vaters, dann wieder ist er von seinem Freund Konrád kaum zu unterscheiden. Ist nicht überhaupt er als ein Konrád angelegt, ist nicht der zarte, übersensible Junge noch eher als der krampfhaft disziplinierte Freund zum Künstler bestimmt? Konrád, gleich dreifach in den Blick gerückt - als eine Möglichkeit des Generals, als Zuhörer und Gegenstand der Rede -, ist nicht in dem Maß der »geheimnisvolle Andere« wie der Redende selbst, der bis zuletzt zwischen verschiedenen Lebens- und Selbstentwürfen schwankt. Was ist er? Ein banaler Traditionalist, der monomanisch an der »Ehre« und an antiquierten Vorstellungen festhält (Freundschaft, eine Männersache; wenn eine Frau »jemand« ist, dann doch nur auf »weibliche Art«)? Oder ist er so unkonventionell, wie man es von einem doppelt Betrogenen überhaupt erwarten kann? Ist er ein Hersager von Gemeinplätzen oder einer, der sich zu dem Punkt durchzudenken vermag, an dem ihm sein betrügerischer, verbrecherischer Freund immer noch liebenswert und interessant erscheint? Und was will er? Daß Konrád redet? Oder nicht viel eher, dass Konrád schweigt? Versucht er sich nicht gerade zu diesem Zweck in mancher Sprache: in der pathetischen, der unterkühlten, der redundanten, der
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