Die Götter 2. Das magische Zeichen
Kercyan.
Als Josion jedoch vom Kind zum Mann wurde, zogen düstere Wolken am Himmel auf. Unser Zusammenleben wurde von Mond zu Mond schwieriger. Leider bemerkte ich es erst zu spät, doch irgendwann musste ich den Tatsachen ins Auge sehen: Ich hatte aus meinem Sohn einen wortkargen Einzelgänger gemacht, der verstörend selten lächelte. Indem ich Josion wie ein außergewöhnliches Wesen behandelte, hatte ich ihm seine kindliche Unbeschwertheit genommen. Schlimmer noch: Ich raubte ihm jede Möglichkeit, eines Tages glücklich zu sein.
Es kam, wie es kommen musste. Nach einem letzten heftigen Streit verließ er die Burg ohne ein Abschiedswort, ohne einen Blick zurück. Das ist jetzt vier Jahre her. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Nur manchmal berichtet mir mein Mann etwas über sein Leben. Nolan besucht Josion regelmäßig in Lorelia. Ich selbst bin außerstande, meinem Sohn gegenüberzutreten. Meine Reue ist zu groß.
So war es bis vor ein paar Tagen.
Doch leider stellte sich heraus, dass ich Recht gehabt hatte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, meinen Sohn auf den Kampf gegen die Geister der Vergangenheit vorzubereiten. Ich bedaure nur, dass es auf Kosten seiner Liebe zu mir geschah. Vielleicht bin ich über das Ziel hinausgeschossen, aber man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Der seelische Schmerz, der Josions Kindheit bestimmt hat, hilft ihm vielleicht heute dabei zu überleben.
Das ist mein größter Wunsch. Mein eigenes Schicksal ist mir gleichgültig. Da mir das Glück offenbar versagt ist, beginnt für mich nun die Zeit der Trauer. Ich werde sie nach Art der Züu begehen: Ich werde mein blutrotes Gewand anlegen, und all jene, die sich mir in den Weg stellen, werden meine Wut zu spüren bekommen.
Ich werde meine Trauer im Blut meiner Feinde ertränken.
Erstes Buch
Die
Steinpyramide
Guederic war schon eine ganze Weile wach, traute sich aber nicht, die Augen zu öffnen. Vielmehr wollte er es nicht. Wozu auch? Sein derzeitiges Leben und die Ereignisse der letzten Tage waren alles andere als erfreulich. Seit er die Geschichte seiner Vorfahren kannte, war er Hals über Kopf in eine Welt voller Dämonen, fanatischer Sekten und schwarzer Magie gestürzt. Eine Welt, in der die Sterblichen ein Spielball böser Mächte waren. Eine Welt, die seinen Eltern und ihm selbst nur Leid beschert hatte. Nein, er würde die Augen einfach weiter geschlossen halten und sich unter seiner Decke verkriechen. Je später er sich der Außenwelt stellen musste, umso besser. Und überhaupt, was waren schon ein paar Dezillen Schlaf gegen die Jahrtausende, die das Jal existiert hatte? Nichts! So viel wie ein einziger Atemzug in einem Menschenleben.
Doch selbst dieser kurze Aufschub war ihm nicht vergönnt.
» Guederic? Schläfst du noch? «
Hätte nicht Damián, sondern irgendjemand anders ihn angesprochen, hätte er den Störenfried mit ein paar scharfen Worten fortgeschickt. Doch er brachte es nicht übers Herz, seinen eigenen Bruder zu beschimpfen. Nicht nach den Geschehnissen der vorigen Nacht und den schrecklichen Dingen, die ihnen in den letzten Tagen widerfahren waren. Der jüngste Sohn der Familie von Kercyan fühlte sich ohnehin schon mutterseelenallein, da wollte er nicht auch noch seinen Bruder vor den Kopf stoßen.
» Schön wär’s « , knurrte er trotzdem recht unfreundlich. » Was ist denn? «
Damián ließ sich mit der Antwort Zeit. Seufzend beschloss Guederic, doch die Augen zu öffnen. Das sanfte Morgenlicht schien ihm unerträglich grell.
» Was ist denn? « , fragte er noch einmal.
Sein Bruder kniete neben ihm, das Gesicht von Müdigkeit gezeichnet. Vermutlich hatte er kein Auge zugetan, sondern die ganze Nacht über Wache gehalten. Das wäre jedenfalls typisch für den Ritter der Grauen Legion.
» Ich will draußen nach dem Rechten sehen « , murmelte Damián. » Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. «
» Warum fragst du nicht Souanne? «
Guederic hatte nicht groß nachgedacht, die Worte waren ihm einfach so entschlüpft. Noch bevor er geendet hatte, bereute er seine Frage. Sicher, Souanne war Damiáns Untergebene und gehörte wie er der Grauen Legion an. Sicher, sie war im Umgang mit der Waffe geübt und besser als er selbst geeignet, auf eine Patrouille zu gehen, die sich als gefährlich erweisen konnte. Aber Guederic musste Damián nur kurz in die Augen sehen, um zu verstehen, dass dieser keinen Geleitschutz, sondern die Gesellschaft seines Bruders
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