Die Göttin der kleinen Siege
zur Krankhaftigkeit. Meine Jungmädchenträume hatte ich aufgegeben. Ich wäre gern Filmschauspielerin geworden – wie alle Mädels damals. Ich war ein bisschen verrückt, ziemlich hübsch, vor allem im Profil. Die Sklaverei der Dauerwelle wurde von der Sklaverei der langen Haare abgelöst. Ich hatte graue Augen, immer rot bemalte Lippen, schöne Zähne und kleine Hände. Und eine Tonne Puder auf dem Feuermal, das meine linke Wange verunzierte. Diesem verdammten Makel verdanke ich wirklich viel – alle meine verlorenen Illusionen!
Kurt und ich hatten nichts gemeinsam, jedenfalls nicht sehr viel. Ich war sieben Jahre älter als er, ich hatte nicht studiert – er schrieb seine Doktorarbeit. Mein Vater war Porträtfotograf mit einem kleinen Laden im Viertel – Kurts Vater war ein wohlhabender Industrieller. Er war evangelisch, ich damals katholisch, jedoch mit wenig Überzeugung. Die Religion stellte für mich ein Familienerbstück dar, das auf dem Kaminsims verstaubte. Damals hörte man höchstens in Tänzerinnenkreisen das Gebet: „Maria, hilf, du, die du es bekommen hast, ohne es zu machen, mach, dass ich es machen kann, ohne es zu bekommen!“ Wir alle hatten Angst, einen Braten in die Röhre zu bekommen, ich am allermeisten. Viele endeten im Hinterzimmer von Mutter Dora, einer alten Engelmacherin. Mit zwanzig Jahren überließ ich alles mehr oder weniger dem Zufall. Gute Karten, schlechte Karten – ich zockte. Ich hatte nicht vor, mir Glück und Unbeschwertheit für später aufzusparen. Ich musste plündern und brandschatzen. Später wäre Zeit für ein neues Spiel. Vor allem hätte ich Zeit, zu bereuen.
Unser Spaziergang endete, wie er begonnen hatte, in sehr unbehaglichem Schweigen, in dem jeder seine Gedanken verbarg. Auch wenn ich nie mathematisch begabt war, so kannte ich doch dieses Axiom: Schon die kleinste Brechung im Einfallswinkel bewirkt eine große Veränderung des Ausfallswinkels. In welcher Dimension, in welcher Version unserer Geschichte hat es mich an jenem Abend nicht begleitet?
3.
„Was soll das heißen: ‚Kann sein‘? Gibt sie die Papiere nun heraus oder nicht? Was gewinnt sie bei diesem Spielchen?“
„Zeit, nehme ich an. Aufmerksamkeit.“
„Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Vergewissern Sie sich nur, dass der Nachlass an einem sicheren Ort ist. Und verärgern Sie sie nicht! Diese alte Irre ist imstande, alles in den Müll zu werfen.“
„Das glaube ich nicht. Sie wirkt vollständig klar im Kopf. Jedenfalls was dieses Thema angeht.“
„Absurd! Sie kann das doch gar nicht entziffern!“
„In fünfzig Jahren Zusammenleben hat er ihr vielleicht gewisse Aspekte seiner Arbeit erklärt.“
„Die Memoiren eines Handelsvertreters interessieren uns nicht, verflucht noch eins! Wir sprechen hier über einen theoretischen Komplex, von dem die meisten Leute nicht einmal die Grundbedingungen begreifen.“
Anna wich einen Schritt zurück. Sie hasste es, wenn man ihr zu nahe kam. Calvin Adams besaß die unerfreuliche Angewohnheit, Speichel zu sprühen, wenn er angespannt war.
Gleich als sie wieder ins Institut gekommen war, hatte die junge Frau dem Direktor das Gespräch mit der Witwe Gödel geschildert. Sie hatte sich gehütet, die Aggressivität der alten Dame zu entschärfen. Anna wollte ihren Erfolg unterstreichen. Zumindest hatte sie es geschafft, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, wo ihr Vorgänger, ein anerkannter Spezialist, sich eine blutige Nase geholt hatte. Aber aus Empörung über den unveränderten Status quo hatte Adams nicht auf diesen Unterschied geachtet.
„Was ist, wenn er während eines paranoiden Schubs seine Archive selbst zerstört hat?“, meinte Anna.
„Wenig wahrscheinlich.“
„Hat die Familie keine Ansprüche erhoben?“
„Gödel hat keine Verwandten außer seinem Bruder Rudolf, der in Europa lebt. Er hat alles seiner Frau vermacht.“
„Dann hat er ihr also zugetraut, angemessen damit umzugehen.“
„Diese Unterlagen müssen wegen ihrer zeitübergreifenden Bedeutung dem Institut zukommen. Ob es nun Gödels Notizen sind, seine Rechnungen oder seine Arztrezepte!“
„Ein unveröffentlichtes Manuskript, wer weiß?“
„Die Chancen, darunter etwas Fundamentales zu finden, stehen eher schlecht. Er hatte sich in den letzten Jahren ein wenig verzettelt.“
„Auch die Irrungen eines Genies tragen die Spuren des Genius.“
„Meine liebe Anna, in Ihrem Fachgebiet ist so ein romantischer Touch ein Zeichen von
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