Die Göttin der kleinen Siege
Dilettantismus.“
Diese verächtliche Vertraulichkeit brachte Anna auf. Sie kannte Calvin Adams seit ihrer Kindheit, aber sie hätte sich nie erlaubt, ihn beim Vornamen zu nennen, schon gar nicht in den heiligen Hallen des Instituts. Es fehlte nur noch, dass er ihren Schenkel tätschelte! Was Gödels Genialität anging, litt sie bestimmt nicht an Naivität – sie war ernsthaft fasziniert von dem Mathematiker. In fünfzig Jahren Forschung hatte der geheimnisvolle Einsiedler sehr wenig veröffentlicht, alle bezeugen jedoch, dass er nie aufgehört hatte zu arbeiten. Warum sollte man von seinem Nachlass also nicht mehr erwarten dürfen als einfach nur historisches Material? Anna würde sich nicht mit der Rolle des Laufburschen zufrieden geben. Sie müsste unbedingt an diese Dokumente kommen und dafür sorgen, dass Calvin Adams seine herablassende Haltung ihr gegenüber bereute. „Kennen Sie sich bei Bourbon aus, Herr Direktor?“ Eine überflüssige Frage für jemanden, der Calvins morgendliche Alkoholfahne ertragen musste.
Am frühen Nachmittag machte Anna sich wieder auf den Weg zur Seniorenresidenz, sie war bereit, die Stellung erneut zu stürmen. Doch die diensthabende Krankenschwester bremste ihren Schwung: Missis Gödel sei in Behandlung, Anna müsse sich gedulden. Betreten zog sie sich zu den Besucherstühlen im Foyer zurück. Sie wählte ihren Platz so, dass sie die verbotene Tür im Blick hatte. Vom Ende des Flurs rief ihr eine etwa hundertjährige Gestalt zu: „Haben Sie Pralinen dabei?“ Beim Schweigen der Besucherin machte sie wortlos wieder kehrt.
Anna wollte sich nicht in einen Roman vertiefen, damit sie Adeles Rückkehr auch ja nicht verpasste. Als sie sah, dass die Putzfrau das Zimmer betrat und die Tür hinter sich offen ließ, wurde Anna langsam ungeduldig. Sie wagte sich hinein.
Als würde sie die Örtlichkeiten kennen, stellte sie ihre Sachen ab und wusch sich die Hände, bevor sie unauffällig das Zimmer inspizierte. Bei ihrem ersten Besuch war sie blind vor Angst gewesen und hatte nicht auf Details geachtet. Die Wand war in einem verwegenen Türkisblau gestrichen, welches das dunkle Eichenimitat des Bettes mit dem Beigeton des Rollwagens versöhnte. Auch der brandneue Sessel war blau und wartete nacheinander auf Besucher. Anna war schockiert, als einzige Lektüre lediglich eine abgegriffene Bibel und ein paar belanglose Zeitschriften vorzufinden. Da gab es auch ein paar persönlichere Dinge – eine Häkeldecke, ein Kissen mit Blumenmuster, eine Nachtkästchenlampe mit Glasperlen am Schirm. Durch die Aluminiumjalousien fiel goldenes Licht herein. Alles war ordentlich aufgeräumt. Abgesehen von den allgegenwärtigen medizinischen Geräten und dem Fernseher ganz oben an der Wand, wirkte das Zimmer gemütlich. Anna hätte gern eine Tasse heißen Tee am Fenster getrunken.
Ein Radiowecker aus weißem Plastik erinnerte sie daran, dass der Tag dahin war. Die Reinigungskraft wischte mit einem feuchten Putzfetzen den Boden, dann verschwand sie und widmete sich anderen Aufgaben. Auf Adeles Nachtkästchen stand stolz altmodischer, sichtlich billiger Krimskrams. Angewidert stellte Anna eine verblasste bunte Dose zurück, in der ein paar vertrocknete Klümpchen lagen; sie hatte einmal Veilchenpastillen des Wiener Cafés Demel enthalten – „produziert in Österreich“, stand da. Anna besah sich die Fotos in den schwülstigen Rahmen: Adele im Profil, sehr jung, die dauergewellten Haare als Bubikopf. Sie hatte eine Sanftheit, die heute verschwunden war. Sie war hübsch trotz dieses leeren Blicks, den die Leute auf alten Studioaufnahmen immer haben. Sie dürfte brünett gewesen sein, auf dem Schwarzweißbild konnte man aber die Haarfarbe nicht zweifelsfrei feststellen. Ihre etwas dunkleren Augenbrauen waren nach der damaligen Mode mit dem Stift nachgezogen. Auf dem Hochzeitsfoto war Adele, wieder im Profil, schon weniger fesch und hatte platinblondes Haar. Herr Gödel neben ihr blickte unbeteiligt in die Kamera. Ein Gruppenbild vor dem Mittelmeer zeigte Adele dick und heiter ohne ihren Mann.
„Machen Sie schon mal Bestandsaufnahme vor der Versteigerung?“
Anna suchte vergeblich nach einer Entschuldigung. Schließlich ging sie ihrer Arbeit nach, und es war ihre Sache, die Grenze zwischen persönlichen Erinnerungen und Kulturgut zu ziehen.
Die Altenpflegerin half Adele ins Bett.
„So, Missis Gödel, ruhen Sie sich jetzt aus.“
Anna verstand die Botschaft: Regen Sie sie nicht auf, sie hat ein
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