Die goldene Meile
Körperbau eines Mannes, der sein Leben lang schwer gearbeitet hat. Maja drückte sich in eine Ecke.
»Ist sonst noch jemand zu Hause?«
»Alle in der Nähe«, behauptete Schenja. Er dachte daran, dass Lozowski eine Belohnung auf Maja ausgesetzt hatte.
»Wo in der Nähe?«
»In der Nähe eben.«
»Das Baby macht drei«, stellte Lozowski fest, als Katja anfing zu weinen. »Und hier meine Frage: Braucht ihr Brennholz?«
»Nein«, sagte Schenja.
»Ich zeig's dir. Ist wirklich kein Problem.« Er deutete auf den Holzstapel neben der Hintertür, nahm den dicksten Klotz herunter, legte ihn auf einen Baumstumpf und spaltete ihn, als wäre er ein Zahnstocher. »Dauert nicht mal eine Sekunde. Keiner wird erfahren, dass ich hier war. Nicht? Bist du dir sicher?«
»Ganz sicher«, sagte Schneja.
»Ich wollte nur helfen. Heute Abend soll es Regen geben. Gut für die Bauern.«
Als Leopold Lozowski wieder auf dem Bauernhof war, skizzierte er die Umrisse der Datscha mit allen Zugangspunkten: Fenster, Türen, Kamin. Dann lehnte er sich zurück und wartete auf den Regen.
Der Regen war perfekt, ein gleichmäßiges Rauschen ohne Blitze. Der Mann, der sich Leopold Lozowski nannte, schwamm durch den Teich zu der am wenigsten geschützten Seite der Datscha. In seinem schwarzen Taucheranzug war er so gut wie unsichtbar. Der wasserdichte Beutel, den er bei sich trug, enthielt nur zwei Rauchgranaten und eine silikongepolsterte Gasmaske mit großen Sichtscheiben. In einer Scheide an seiner Wade steckte ein Kampfmesser, das zum Schneiden und Stechen gleichermaßen geeignet war. Zwischen Ruderboot und Kajak verborgen, beobachtete er, wie die Lichter in der Datscha nacheinander ausgingen.
Als die letzte Lampe erlosch und Lozowski sich aufrichten wollte, kippte das Ruderboot um, und er wurde aufgeschlitzt, vom Brustbein bis zu den Eiern.
Arkadi ließ sich zurückfallen, als eine warme Welle durch das Wasser strömte. Eine Hand umklammerte seinen Knöchel, aber er strampelte sich frei und ruderte zurück, um Lozowski ins tiefere Wasser zu locken, wo das Aufrechtstehen auf dem schwammigen Boden zu einem Balanceakt wurde. Von Lozowski sah er nur die Umrisse des Kopfes, und auch der sank immer tiefer, bis Arkadi ausrutschte und Lozowski doch noch seinen Gürtel zu fassen bekam und ihn in seine Arme zog. Lozowski wand sich kurz: Vermutlich zog er sein Messer, dachte Arkadi und machte sich auf einen Stich ins Ohr oder einen Schnitt quer über die Kehle gefasst. Eigentlich sollte der Mann schon längst am Schock gestorben sein, aber er machte immer noch weiter wie ein Profi.
Schimmernde Lichter, die auf dem Wasser schwammen, lenkten Lozowski ab. Sie führten in einer Kette zur Maja, die mit einer Laterne am Ufer stand. Einmal hätte er beinahe ihren Bus erwischt, und ein andermal hatte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Anja und Emma kamen dazu, und gemeinsam legten ihre Laternen einen goldenen Weg über das Wasser.
Er ließ Arkadi los und wandte sich den Lichtern zu. Aber jeder Schritt fiel ihm schwerer, und der goldene Weg schimmerte auf und verblasste.
EPILOG
Hinter einer Samtkordel im oberen Wartesaal des Jaroslawler Bahnhofs stand ein Flügel. In all den Jahren, in denen Arkadi hier ein und aus gegangen war, hatte er nie gehört, dass jemand darauf spielte. Aber jetzt tat es einer, und neugierig fuhr Arkadi mit der Rolltreppe nach oben, um nachzusehen. Der Pianist war ein breitschultriger junger Mann, der es genoss, dass dieses Klavier seit Jahren nicht gestimmt worden war und deshalb verblüffend schräge Töne im Überfluss von sich gab. Einige Tasten funktionierten nicht mehr. Dennoch - ein Walzer war ein Walzer, selbst nachdem der Pianist verkündet hatte, das Stück symbolisiere das russische Chaos. Im Lächeln der Leute mischten sich Verlegenheit und Stolz, denn für sie bewies seine Darbietung, dass ein russischer Musiker auf allem spielen konnte. Und wenn es sein musste, auf Kokosnussschalen.
Emma lachte, und Maja ließ sich davon anstecken.
»Lächle«, sagte Anja. Unwillkürlich erschien auch auf Arkadis Gesicht ein Lächeln.
Ein vertrautes Lied wurde angestimmt. Die Leute klatschten und sangen mit. Das war der Schlüssel zu ihrem Überleben. Es kümmerte sie nicht, wie viele Tasten dabei fehlten.
Chaos war der Normalzustand.
Impressum
Die goldene Meile: Ein Arkadi-Renko-Roman
von Martin Cruz Smith (Autor),
Rainer Schmidt (Übersetzer)
Preis: EUR 19,95
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: C.
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