Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
wieder gesund wurden. Das Schlimmste jedoch war, sich niemandem anvertrauen zu können. Die Zeit verging. Je älter sie wurde, desto beängstigender erschien ihr das Ganze. Der einzige Trost in jenen einsamen Zeiten, als sie noch ein Kind und voller Fragen gewesen war, auf die niemand eine Antwort gewusst hätte, war ihr unsichtbarer Gefährte gewesen, mit dem sie stets gesprochen und gespielt und dem sie alles anvertraut hatte. Cristin hatte ihn nur Freund genannt, denn sie kannte seinen Namen nicht. Er war ungefähr in ihrem Alter gewesen, seine Haare eher von der Farbe reifen Korns und von größerer Gestalt als sie. In seinem Gesicht spiegelte sich der Schalk wider. Am meisten hatte sie aber seine Stimme geliebt, tiefer und rauchiger als ihre und stets etwas atemlos. Meist kam er zu ihr, wenn sie allein oder im Spiel versunken war, und setzte sich zu ihr. Gemeinsam hatten sie sich Geschichten von tapferen Rittern und schönen Jungfrauen ausgedacht, die gerettet werden mussten. Dann wurde ihr Herz leichter, und sie vergaß ihre bösen Träume von Hexen und Dämonen, die sie schreckten und bis in den Tag verfolgten.
Oft hatte sie sich gewünscht, dieser Junge könnte bei ihr bleiben und würde sich nicht plötzlich nach dem Spiel wieder in Luft auflösen. Manchmal hatte ihre Mutter sie dabei erwischt, wenn sie mit ihm gesprochen oder gelacht hatte, und ihr mit ernster Miene immer wieder versichert, diesen Spielgefährten bildete sie sich nur ein. Aber für Cristin, kaum acht Lenze alt, war der Freund so wahr und echt gewesen wie der Erdboden unter ihren Füßen und die nächtlichen Sterne am Himmel.
Cristin lächelte, als die Bilder aus der Vergangenheit in ihr verblassten. Ihr unsichtbarer Freund erschien ihr nun, da sie erwachsen war und selbst bald Mutter sein würde, wie das kostbarste Geschenk ihrer Kindheit. Später dann, als sie älter und verständiger war, hatte sie erkannt, dass der Junge tatsächlich ihrer Fantasie entsprungen sein musste, denn als sie allmählich zu einer Frau heranreifte, kam er nicht mehr. Seither waren es lediglich wenige Träume, in denen sie meinte, die Wärme einer anderen vertrauten Person neben sich ausmachen zu können. Doch auch dies war gewiss nur eine Wunschvorstellung und hatte mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen. Immer wenn sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt war, überfiel sie ein Ziehen in der Herzgegend. Die Trauer darüber, den Gefährten verloren zu haben, konnte sie auch in diesem Augenblick noch spüren.
3
M inna und die junge Mirke waren nach einem langen Arbeitstag damit beschäftigt, die Werkstatt aufzuräumen. Cristin beobachtete das blonde, zierliche Mädchen mit dem runden Gesicht aus den Augenwinkeln. Die noch ein wenig schüchtern und unsicher wirkende Mirke war erst kurze Zeit bei ihnen und gab sich redlich Mühe, den Anforderungen ihres Herrn gerecht zu werden. Allerdings war sie ungewöhnlich geschickt, wenn es darum ging, besonders gleichmäßiges Garn zu spinnen. Cristin nickte dem Mädchen zu.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein schlanker Mann betrat die Werkstatt. Seine blonden, halblangen Haare waren von einem flachen Filzhut bedeckt, den eine Brosche zierte, die gut und gerne einen halben Gulden gekostet haben mochte. Er lächelte. »Gott zum Gruße, verehrte Damen.«
»Gott zum Gruße, Lynhard«, begrüßte Cristin ihren Schwager höflich. »Was führt dich zu dieser späten Stunde noch hierher?«
Lynhard Bremer schloss die Tür und musterte seine Schwägerin wohlwollend. Seine blauen Augen funkelten. »Ich wünsche Lukas zu sprechen. Ist er hier?«
Cristin nickte in Richtung der kleinen Schreibstube. »Er ist in der Dornse. Geh nur hinein.«
Sein Blick suchte kurz den ihren, doch sie wich ihm aus. Es war ihr stets unangenehm, wenn er sie auf diese Weise betrachtete. Obwohl er mit seinem formvollendeten Auftreten und dem charmanten Lächeln sicher das Herz so mancher jungen Frau höher schlagen ließ, konnte sie sich einer gewissen Abneigung gegenüber Lynhard nicht erwehren. Seinem Wesen fehlten die Wärme und der Humor, die sie an Lukas so liebte. Sie sah ihm nach, wie er mit eleganten Bewegungen die Werkstatt verließ, wobei ihr Mirkes träumerischer Ausdruck nicht entging. Kopfschüttelnd machte sie sich wieder an die Arbeit.
Nachdem sie die Goldspinnerei abgesperrt hatte und die Lohnarbeiter gegangen waren, machte Cristin sich an die Zubereitung des Abendessens. Wenig später saß sie mit
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