Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
Vom Netzwerk:
mich bloß ein Name, ein Amt, ein Haus, ein Vermögen, ein Gesicht, dem ich mindestens zwei- oder dreimal die Woche begegnete und vor dem ich den Hut zog. Aber was dahinter war, was zählte das? Seit ich mit seinem Gespenst leben muss, ist er so etwas wie ein alter Bekannter geworden, ein Verwandter im Unglück, ein Teil meiner selbst sozusagen, den ich, so gut es geht, wieder zum Leben zu erwecken und zum Sprechen zu bringen versuche, um ihm eine Frage zu stellen. Eine einzige Frage. Manchmal sage ich mir, dass ich meine Zeit verschwende, dass der Mann so undurchdringlich war wie dichter Nebel und dass tausend Abende dafür nicht ausreichen würden. Aber Zeit habe ich jetzt mehr als genug. Es ist, als stünde ich außerhalb der Welt. Ich lebe im Strudel einer Geschichte, die nicht meine eigene ist. Nach und nach stehle ich mich daraus fort.
    V

    1914. Am Vorabend des großen Gemetzels herrschte bei uns plötzlich Mangel an Ingenieuren. Zwar arbeitete die Fabrik weiterhin beständig, aber irgendetwas hielt die Belgier in ihrem kleinen Königreich zurück, im schmächtigen Schatten ihres Operettenkönigs. Mit vielen Verbeugungen und Höflichkeitsfloskeln teilte man dem Staatsanwalt mit, er werde fortan keinen Mieter mehr bekommen.
    Der Sommer kündigte sich in den Gartenlauben ebenso heiß an wie in den Schädeln vieler Patrioten, die man wie ein robustes Uhrwerk aufgezogen hatte. Überall reckte man Fäuste und pflegte schmerzliche Erinnerungen. Aus Eigenliebe und Dummheit war ein ganzes Land bereit, einem anderen an die Gurgel zu gehen. Die Väter drängten ihre Söhne. Die Söhne drängten ihre Väter. Nur die Frauen – Mütter, Gattinnen oder Schwestern – beobachteten das Geschehen mit Sorge um kommendes Leid im Herzen und einer Klarsichtigkeit, die sie weit entfernt hielt von diesen mit Hurrageschrei erfüllten Nachmittagen und den vaterländischen Liedern á la Paul Deroulede, die damals aus dem Laubwerk der Kastanienbäume widerhallten.
    Unsere kleine Stadt hörte den Krieg, machte ihn aber nicht wirklich mit. Ohne Provokation und Übertreibung kann man sogar sagen, dass sie davon lebte: Die Männer hielten die Fabrik am Laufen. Sie wurden gebraucht. Es kam ein Befehl von ganz oben. Ein guter diesmal, das ist selten. Auf Anordnung ich weiß nicht mehr welches hohen Tieres wurden alle Arbeiter zum zivilen Dienst abgestellt: Achthundert Burschen entkamen auf diese Weise der roten Knallerei und dem blauen Horizont. Achthundert Männer, die in den Augen mancher Zeitgenossen nie echte Männer wurden, die sich jeden Morgen aus einem warmen Bett erhoben und nicht aus einem schlammigen Schützengraben, die sich auf den Weg machten, um Loren zu schieben, keine Leichen wegzutragen. Ein unerhörter Glücksfall! Der Luftzug der Granaten, die Angst, die stöhnenden Kameraden, die zwanzig Meter entfernt im Stacheldraht verrecken, während die Ratten an den Kadavern nagen, weg mit alledem. Stattdessen das Leben, nichts als das wirkliche Leben. Das Leben, das man jeden Morgen nicht als einen Traum hinter dem Qualm begrüßt, sondern als eine warme Gewissheit, die nach Schlaf und Frau duftet. «Glückspilze! Drückeberger!», das war es, was sämtliche Soldaten dachten, wenn sie einäugig, beinlos, amputiert, zerquetscht, zerfleischt, mit eingeschlagenen Gesichtern oder als Gasopfer bei uns zur Erholung waren und auf unseren Straßen den rosigen, wohlgenährten Arbeitern mit ihren Brotbeuteln begegneten. Manche, die einen Arm in der Schlinge trugen oder ein Holzbein hatten, wandten sich ab, wenn sie vorbeigingen, und spuckten auf den Boden. Man musste Verständnis für sie haben. Man kann schon aus nichtigerem Anlass hassen. Nicht alle waren Arbeiter. Die wenigen Bauern, die im wehrpflichtigen Alter waren, tauschten ihre Mistgabel gegen das Lebel-Gewehr. Als sie stolz wie Kadetten abreisten, wussten sie noch nicht, dass einige ihrer Namen bald auf Gedenksteine gemeißelt werden sollten. Und dann fand ein Aufbruch statt, der Wirbel machte: der des Lehrers. Er hieß Fracasse und stammte nicht aus der Gegend. Eine Feier wurde organisiert. Die Kinder hatten ein rührendes und naives Liedchen komponiert, das ihm die Tränen in die Augen trieb. Der Stadtrat schenkte ihm einen Tabaksbeutel und ein Paar feine, städtische Handschuhe. Ich frage mich, was er mit diesen lachsfarbenen Handschuhen aus zartem Stoff wohl hat anfangen können, die er aus ihrer Schachtel aus Haifischhaut und Seifenpapier nahm und ungläubig betrachtete. Ich

Weitere Kostenlose Bücher