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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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grazil wirkte wie der Tanz eines Zirkuselefanten, vor den Augen der Mademoiselle, die in die Landschaft hinausschaute, als wollte sie sich dort verlieren, während sie uns mit einem leichten Druck ihres zarten Handgelenks die Hand schüttelte.
    Sie betrat die Schule und musterte das Klassenzimmer, als wäre es ein Schlachtfeld. Es roch nach Bauernkindern. Auf dem Boden lagen noch Aschereste von der verbrannten Fahne. Umgestürzte Stühle ließen den Raum aussehen wie nach einem Zechgelage. Einige von uns beobachteten die Szene von draußen, indem sie sich die Nasen an den Fensterscheiben des Klassenzimmers platt drückten. Auf der Tafel war der Anfang eines Gedichtes angeschrieben:

    Wahrscheinlich spürten sie die schneidende Kälte In ihren nackten Herzen, unter den offenen Sternen, Und den fast sicheren Tod ...

    An der Stelle brach die Schrift ab, zweifellos die von Le Contre, eine Schrift, die uns seine Augen und seine Gymnastikübungen in Erinnerung rief, während er wohl – wo nur? – auf einer schmutzigen Matratze lag oder unter kalten Wassergüssen und den fliederfarbenen Blitzen von Elektroschocks schlotterte.
    Nachdem der Bürgermeister der jungen Frau die Tür geöffnet und die Fahne gezeigt hatte, hat er gesprochen, dann seine Wurstfinger in die Uhrtäschchen seiner Seidenweste gezwängt und schweigend seine Wichtigkeit zur Schau gestellt, während er uns von Zeit zu Zeit fun kelnde Blicke zuwarf, die sicher sagen sollten: «Was habt ihr da eigentlich zu suchen, was wollt ihr hier? Macht euch vom Acker, klebt nicht so an unseren Lippen!» Aber keiner ging fort.
    Die junge Frau betrat das Klassenzimmer mit kleinen Schritten, die sie zu den Schülerpulten führten, auf denen noch Hefte und Füller lagen. Sie beugte sich über eines, las die beschriebene Seite, man sah sie lächeln, und zugleich sah man ihr Haar, das ihren Hals umgab wie goldener Schaum, zwischen dem schmalen Kragen ihrer Bluse und ihrer Haut. Dann blieb sie vor der Asche der Fahne stehen, stellte die umgestürzten Stühle wieder auf, arrangierte, als sei es ein Kinderspiel, vertrocknete Blumen in einer Vase, wischte ohne Reue die unvollendeten Verse von der Tafel und lächelte den Bürgermeister an, der wie festgenagelt an seinem Platz stehen blieb, festgenagelt durch das Lächeln einer Zwanzigjährigen, während man sich kaum fünfzehn Meilen davon entfernt mit blankgezogener Waffe in die Kehlen stach, sich in die Hose machte oder starb, weit weg vom Lächeln einer Frau, auf einer verwüsteten Erde, wo selbst die Vorstellung einer Frau zu einer Chimäre geworden war.
    Der Bürgermeister klopfte sich auf den Bauch, um Eindruck zu schinden. Lysia Verhareine verließ das Klassenzimmer mit Schritten, die einer Tänzerin würdig gewesen wären.

    VI

    Von jeher hatte der Lehrer über der Schule gewohnt: drei hübsche, nach Süden gelegene Zimmer, von denen aus man die Anhöhe mit ihren Weinstöcken und Mirabellenbäumen sehen konnte. Fracasse hatte eine behagliche Wohnung daraus gemacht, wie ich gelegentlich hatte sehen können, an den ein oder zwei Abenden, an denen wir, jeder von uns ein wenig reserviert, miteinander über alles und nichts plauderten, eine Wohnung, wo es nach Bienenwachs, gebundenen Büchern, Meditation und Zölibat roch. Niemand war je dort gewesen, nachdem Le Contre seine Nachfolge angetreten hatte, auch nicht als die Krankenschwestern ihn mitgenommen hatten.
    Der Bürgermeister steckte den Schlüssel ins Schloss, stieß mühsam, leicht erstaunt wegen des Widerstandes, die Tür auf und trat ein. Sofort erstarb sein Fremdenführerlächeln: Das nehme ich jedenfalls an, denn ich rekonstruiere die Geschichte und fülle die Lücken, aber ich glaube, dass ich kaum etwas erfinde, denn das alles haben wir seinem Entsetzen abgelesen, seiner Stirn, auf der sich große Tropfen aus Schweiß und Erstaunen bildeten, seiner grauen Gesichtsfarbe, als er einige Minuten später wieder nach draußen kam, um die Luft mit vollen Zügen einzusaugen und sich mit einem Ruck an eine Mauer zu lehnen, bevor er, als der Bauer, der er immer geblieben war, aus seiner Tasche ein großes, nicht ganz sauberes kariertes Taschentuch zog und sich damit den Schweiß abwischte.
    Lange danach kam auch Lysia Verhareine wieder ans Tageslicht, musste mit den Augen blinzeln, öffnete sie schließlich, um uns anzusehen und anzulächeln. Dann tat sie ein paar Schritte von uns fort, bückte sich, hob einige verspätete Kastanien auf, die gerade auf den Boden

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