Die grauen Seelen
weiß nicht, was aus Fracasse geworden ist: ob er am Ende jener vier Jahre tot, verwundet oder gesund und munter war. Jedenfalls ist er nie zurückgekehrt, und das verstehe ich: Der Krieg hat nicht nur massenhaft Tote produziert, sondern auch unsere Welt und unsere Erinnerungen entzweigeteilt, als wäre alles, was vorher geschehen ist, ein Schatz auf dem Grund einer alten Tasche, in die man nie mehr wagen würde, die Hand zu stecken.
Man schickte einen Vertretungslehrer, der ausgemustert war. Ich erinnere mich vor allem an seine irren Augen, zwei Stahlkugeln im Weiß einer Auster. «Ich bin dagegen!», sagte er als Erstes zum Bürgermeister, der gekommen war, um ihm seine Klasse vorzustellen. Deshalb nannte man ihn Le Contre. Dagegen zu sein ist gut und schön. Aber wogegen? Man hat es nie erfahren. Jedenfalls war der Spuk nach drei Monaten vorbei: Der Junge hatte sicher schon seit langem den Boden unter den Füßen verloren. Manchmal hielt er mitten in einer Unterrichtsstunde inne, sah die Kinder an und imitierte mit Mund und Zunge das Knattern einer Maschinenpistole, oder er spielte den Einschlag einer Granate nach, indem er sich auf den Boden warf und reglos mehrere Minuten lang liegen blieb. Er war sehr einsam, denn der Wahnsinn ist ein Land, in das nicht jeder Zutritt hat. Man muss ihn sich verdienen. Jeden Abend ging er hüpfend am Kanal spazieren. Sprach mit sich selbst, sagte Dinge, die keiner verstand, blieb gelegentlich stehen, um mit einer Haselrute gegen einen unsichtbaren Gegner zu kämpfen, ging dann weiter und murmelte: «Rattattat, peng peng!» An einem Tag mit starkem Geschützfeuer überschritt er die Grenze. Alle fünf Sekunden zitterten unsere Fenster wie eine Wasseroberfläche bei starker Brise. Die Luft war erfüllt vom Pulver- und Aasgeruch. Der Gestank drang in unsere Häuser, und wir dichteten die Fensterritzen mit feuchten Tüchern ab. Später erzählten die Schuljungen, Le Contre habe sich eine Stunde lang den Kopf mit beiden Händen gehalten, als wollte er ihn zerquetschen, dann habe er sich auf das Lehrerpult gestellt, nacheinander alle Kleider abgelegt und dabei aus Leibeskräften die Marseillaise gesungen. Dann sei er nackt wie Adam zur Fahne gelaufen, habe sie auf den Boden geworfen, darauf gepisst und anschließend versucht, sie anzuzünden. Da sei Jeanmaires Sohn, mit seinen beinahe fünfzehn Jahren der Größte in der Klasse, ruhig aufgestanden und habe ihm mit einem Schürhaken Einhalt geboten, durch einen kräftigen Schlag vor die Stirn.
«Die Fahne ist heilig», sagte der Bengel später, nicht wenig stolz auf sich, als alle ihn umringten und er seine Tat erläuterte. Drei Jahre später ist er auf dem Chemin des Dames gefallen. Immer noch für die Fahne. Als der Bürgermeister eintraf, lag der Lehrer splitternackt ausgestreckt auf dem blauweißroten Tuch, die Haare leicht angesengt vom Feuer, das sich nicht wirklich hatte entzünden wollen. Später brachte man ihn fort, zwischen zwei Krankenschwestern, neu eingekleidet mit einer Zwangsjacke, die ihn wie einen Fechter aussehen ließ, und einer violetten Beule, die auf seinem Schädel prangte wie ein bizarrer Schmuck. Er sprach nicht mehr. Er wirkte wie ein kleines Kind, das gerade ausgeschimpft worden war. Da war er, glaube ich, wirklich von uns gegangen.
Nun hatte die Schule also keinen Lehrer mehr, eine Situation, die den Schuljungen nicht missfiel, aber keineswegs nach dem Geschmack der Behörden war, die das große Bedürfnis hatten, Wissen in die Schädel zu stopfen und in Massen neue, zum Kämpfen entschlossene Solda ten zu fabrizieren. Zumal man zu dieser Zeit, da die ersten Illusionen verflogen waren – «In zehn Tagen werden wir die Boches so weit gebracht haben, dass sie sich nach Berlin verziehen!» –, nicht wusste, wie lange der Krieg dauern würde, und es geraten fand, für Nachschub zu sorgen. Für alle Fälle.
Aber sosehr sich der Bürgermeister auch die Haare raufte und alle erreichbaren Hebel in Bewegung setzte: Es änderte nichts. Er fand keinen Ersatz für Fracasse. Und dann kam alles wie von selbst, um genau zu sein: am 13. Dezember 1914 mit dem Postauto aus V., das wie gewöhnlich vor Quentin Tierrys Eisenwarenhandlung anhielt, in deren Auslage zur ewig gleich bleibenden Dekoration allerhand Schachteln mit Nieten verschiedener Größen neben Taubenfallen aufgereiht waren. Man sah vier Viehhändler aussteigen, die rot wie Tomaten waren, sich mit den Ellbogen anstießen und lauthals lachten, weil sie ihre
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