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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Geschäfte zu ausgiebig begossen hatten; außerdem zwei Frauen, Witwen, die in die Stadt gefahren waren, um dort ihre KreuzstichStickereien zu verkaufen; zudem Vater Berthiet, ein Notar, der sich von seinem Papierkram zurückgezogen hatte und sich einmal wöchentlich in ein Hinterzimmer des Grand Café de l'Excelsior begab, um dort mit einigen anderen Versagern seiner Sorte Bridge zu spielen. Und dann waren da noch drei Mädchen, die für die Hochzeit der einen Besorgungen gemacht hatten. Und schließlich, als Allerletztes, als man schon glaubte, es käme niemand mehr, sah man eine junge Frau aussteigen. Wie ein Strahl Sonne.
    Sie schaute nach rechts, dann nach links, langsam, als wollte sie Maß nehmen. Das Donnern der Kanonen und die Explosionen der Granaten waren verstummt. Der Tag roch noch ein wenig nach der Wärme des Herbstes und dem Saft des Farns. Zu ihren Füßen standen zwei kastanienbraune Taschen, deren Messingverschlüsse ein Geheimnis zu wahren schienen. Ihre Kleidung war einfach, ohne Effekthascherei oder Verzierungen. Sie bückte sich leicht, hob ihre beiden Taschen an und entschwand langsam unseren Blicken, mit ihrer zarten Silhouette, die der Abend in blauen und rosa Dunst hüllte.
    Sie trug den Vornamen Lysia, wie wir später erfuhren, und dieser Vorname stand ihr so gut wie ein Ballkleid. Sie war noch keine zweiundzwanzig, kam aus dem Norden, schien auf der Durchreise zu sein. Mit Familiennamen hieß sie Verhareine. Der kurze Weg, den sie außerhalb unseres Blickfeldes zurücklegte, führte sie zur Kurzwarenhandlung von Augustine Marchoprat. Die zeigte ihr auf ihre Frage hin das Bürgermeisteramt und das Haus des Bürgermeisters: Danach habe die junge Frau gefragt, «mit einer Stimme so süß wie Zucker», sagten die vertrockneten Weiber später. Und Mutter Marchoprat, die sich gern das Maul zerriss, schloss ihre Tür ab, ließ die eisernen Rollläden herunter und eilte los, um alles ihrer alten Freundin Melanie Bonnipeau zu erzählen, einer bigotten Frau mit Häubchen, die den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachte, die Straße von ihrem niedrigen Fenster aus zu beobachten, zwischen den Grünpflanzen, die ihre Ranken gegen die Fensterscheiben pressten, und ihrem dicken kastrierten Kater, der aussah wie ein ernster Mönch. Die beiden Alten ließen ihren Vermutungen freien Lauf und begannen mit der Erfindung wahrer Groschenromane, ganz im Stil jener Heftchen, die sie an Winterabenden verschlangen, bis eine halbe Stunde später Louisette, das Hausmädchen des Bürgermeisters, vorbeikam, ein Mädchen, das so viel Grips hatte wie eine Gans. «Und, wer ist das?», fragte Mutter Marchoprat. «Wer denn?»
    «Dummes Kind! Das Mädchen mit den zwei Taschen?» «Eine aus dem Norden ...»
    «Aus dem Norden? Welchem Norden?», ergriff die
Kurzwarenhändlerin wieder das Wort.
«Weiß nicht, Norden eben. Davon gibt's ja nicht grade
viele.»
«Was will sie?»
«Sie will die Stelle.»
«Welche Stelle?»
«Die von Fracasse.»
«Ist sie Lehrerin?»
«Sagt sie jedenfalls.»
«Und der Bürgermeister, was sagt der?»
«Oh, der hat sie freundlich angelächelt ...»
«Kein Wunder.»
«Sie sind meine Rettung, hat er gesagt.»
«Sie sind meine Rettung!»
«Ja, hab ich doch gesagt.»
    «Wieder einer mit Hintergedanken im Kopf.» «Was für Gedanken?»
    «Mein armes Mädchen. Gedanken in der Hose, wenn dir das lieber ist, du kennst doch deinen Chef, er ist schließlich ein Mann.»
    «Aber in der Hose gibt es doch keine Gedanken «Himmel, ist die doof. Und dein Bastard, wie hast du den gekriegt? Von einem Luftzug?»
    Louisette wandte sich verärgert ab und ging. Die beiden Alten waren zufrieden. Sie hatten etwas, womit sie den Abend verbringen konnten, sie konnten sich über den Norden unterhalten, über die Männer und ihre Laster, das junge weibliche Wesen, das nach allem aussah, nur nicht nach einer Lehrerin, und vor allem schön war, zu schön, um Lehrerin zu sein, so schön, dass sie keinen Beruf brauchte.
    Am nächsten Morgen wussten wir so gut wie alles. Lysia Verhareine hatte im größten Zimmer des einzigen Hotels in der Stadt geschlafen, auf Kosten der Stadtkasse. Und der wie ein junger Bräutigam gekleidete Bürgermeister hatte sie am Morgen abgeholt, um sie überall vorzustellen und sie zur Schule zu führen. Man muss ihn gesehen haben, den Bürgermeister, wie er seine Beine schwang und sich drehte, dass sich der Schritt seiner glänzend schwarzen Hose spannte, was durch seine hundert Kilo Körpergewicht so

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