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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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dadurch reiner, frei von Niedertracht. Beide, Täter und Opfer, wurden zu Märtyrern: Das hat man selten.
    Und dann erhielt ich eines Tages einen Brief. Man weiß
    nicht, warum manche nie ankommen oder so lange unterwegs sind. Vielleicht schrieb der kleine Gefreite ebenfalls täglich an Lysia Verhareine? Vielleicht irren seine Briefe noch heute durch irgendwelche Labyrinthe der Zeit, ob-wohl die beiden längst tot sind? Der Brief, von dem ich jetzt spreche, war am 23. März
    1919 in Rennes aufgegeben worden. Er hatte sechs Jahre gebraucht, um anzukommen. Sechs Jahre, um einmal durch ganz Frankreich zu reisen.
    Er war von einem Kollegen an mich gerichtet worden. Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht, und er muss denselben Brief an lauter Kerle wie mich geschickt haben, die in Städchen nahe einer Linie, die während des Krieges die Front gewesen war, vor sich hin vegetierten. Alfred Vignot, so sein Name, wollte die Spur eines Burschen wieder finden, den er seit 1916 aus den Augen verloren hatte. Ähnliche Anfragen erhielt man häufig, von Bürgermeisterämtern, Familien, Gendarmen. Der Krieg war wie ein großer Topf gewesen, der hunderttausende Männer zu Mus gekocht hatte. Einige waren gestorben, andere hatten überlebt; einige waren nach Hause zurückgekehrt, andere hatten ein neues Leben anfangen wollen. Das große Schlachten hatte nicht nur Körper und Köpfe zerstört; es hatte einer geringen Anzahl als vermisst geltender Männer auch erlaubt, weit weg von ihrem Heimatland frische Luft zu atmen. Wer beweisen wollte, dass sie noch am Leben waren, musste gewitzt sein. Denn es war kinderleicht, seinen Namen und seine Papiere zu wechseln. Es gab fast anderthalb Millionen, die Namen und Papiere nie mehr brauchen würden: Da hatte man die Auswahl! Und so war viel Gesindel unter- und woanders reingewaschen wieder aufgetaucht.
    Vignots Verschollener hatte einen Toten auf dem Gewissen, vielmehr eine Tote, die er nach gründlicher Misshandlung erwürgt und vergewaltigt hatte. Das Verbrechen war im Mai 1916 geschehen. Und Vignot hatte drei Jahre gebraucht, um seine Ermittlungen abzuschließen, die Beweise zusammenzutragen, sich seiner Sache sicher zu sein. Das Opfer hieß Blanche Fen'vech. Sie war zehn Jahre alt. Man hatte sie neben einem Hohlweg in einem Graben gefunden, weniger als einen Kilometer von dem Dorf Plouzagen entfernt. Dort wohnte sie. Sie war wie an jedem Abend losgegangen, um vier armselige Kühe aus einem Park zu holen. Ich musste nicht weiterlesen, um zu erraten, wie der Kerl hieß, den Vignot suchte.
    Der Mörder hieß Le Floc, Yann Le Floc. Zur Zeit der Tat war er neunzehn Jahre alt. Es war mein kleiner Bretone. Ich habe Vignot nicht geantwortet. Jeder wühle in seinem eigenen Mist! Wahrscheinlich hatte er Recht mit Le Floc, aber das änderte nichts. Die Mädchen waren tot, das in der Bretagne und das bei uns. Und der Bengel war ebenfalls tot, ordnungsgemäß standrechtlich erschossen. Außerdem sagte ich mir, dass Vignot sich irren mochte, dass er vielleicht Gründe hatte, dem Jungen die Geschichte anzuhängen, so wie Matziev und Mierck, dieser Abschaum, die ihren gehabt hatten. Was wusste man schon?
    Es war seltsam, ich hatte mich daran gewöhnt, mit dem Geheimnis und dem Zweifel zu leben, mit dem Zwielicht, dem Zögern, dem Fehlen von Antworten. Vignot zu antworten hätte das alles weggewischt: Auf einmal wäre da ein Licht gewesen, das Destinat hell erstrahlen lassen und den kleinen Bretonen ins Dunkel getaucht hätte. Zu einfach. Einer der beiden hatte getötet, so viel ist sicher, aber der andere hätte es ebenso gut tun können.
    Ich habe Vignots Brief genommen und mir damit eine Pfeife angezündet. Pfffft. Rauch! Wolken! Asche! Nichts mehr! Forsche nur weiter, guter Mann, damit ich nicht allein bin! Im Grunde tat ich das vielleicht aus Rache. Es war eine Art, mir selbst zu versichern, ich sei nicht der Einzige, der mit den Fingern im Dreck wühlte und Tote suchte, um sie zum Sprechen zu bringen. Sogar im Nichts tut es gut zu wissen, dass es Menschen gibt, die einem ähnlich sind.

    XXVII

    Wir nähern uns dem Ende. Dem Ende der Geschichte und meinem eigenen. Gräber und Münder sind seit langem geschlossen, die Toten nur noch halb verwitterte Namen, in Stein gemeißelt: Belle de Jour, Lysia, Destinat, Le Grave, Barbe, Adelaide Siffert, der kleine Bretone und der Drucker, Mierck, Gachentard, Bourraches Frau, Hippolyte Lucy, Mazerulles, Clémence ... Oft stelle ich sie mir vor, in der Kälte

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