Gehetzt
1.
Donnerstag, 16. Mai
Der Krieg tobte.
»Fahrer, rechts halten. Gut so. Kanone links schwenken. Weiter nach links. So halten…«
›Das müßte genügen‹, dachte der Panzerkommandant, Sergeant Barnes.
Der Tank verließ die Straße und rollte den Bahndamm hinauf. Gleich würde er im Sichtfeld der deutschen Einheiten von General von Bocks Heeresgruppe B sein. Der Turm mit der Zweipfünder-Panzerkanone und dem Besa-Maschinengewehr deutete im Winkel von neunzig Grad zur Fahrtrichtung drohend auf den Feind. Mit etwa sieben Stundenkilometern Geschwindigkeit rollte der Panzer vorwärts, noch unsichtbar für die deutschen Angreifer, die über das freie Gelände zu dem Bahndamm vorrückten, hinter dem das britische Expeditionskorps sie erwartete.
Hell strahlte die Sonne von einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel herab – ein Omen für den endlos heißen Sommer dieses Jahres 1940.
Barnes’ Panzerbataillon bildete die rechte Flanke der britischen Expeditionsarmeen. Die drei Tanks seiner Gruppe wiederum standen am äußersten rechten Flügel des Bataillons.
Mit ihrer linken Flanke sollte sich die 1. französische Armee nahtlos an das englische Panzerbataillon anschließen, um so eine geschlossene Front gegen den deutschen Angriff zu bilden. Doch schien diese gemeinsame Front irgendwo unterbrochen zu sein, und Sergeant Barnes hatte über Funk von Lieutenant Parker, seinem Gruppenführer, den dringenden Befehl erhalten, die Verbindung wieder herzustellen.
»Versuchen Sie festzustellen, Barnes, wo zum Teufel die Franzosen stecken, und machen Sie mir umgehend Meldung.«
Der direkte Weg zu den Franzosen, die Straße neben dem Bahndamm, war von Tieffliegern mit Bomben bepflastert worden; unzählige eingestürzte Gebäude blockierten die Fahrbahn. Deshalb beschloß Barnes, den Weg zu nehmen, auf dem er am schnellsten vorwärts kam – auf dem Bahndamm, in voller Sicht des Feindes. Dabei verschwendete er kaum einen Gedanken daran, daß er den Deutschen seinen Kampfwagen wie auf dem Präsentierteller als Ziel anbot. Die Panzerplatten waren siebzig Millimeter dick. Die leichten Waffen der deutschen Infanterie konnten ihnen kaum etwas anhaben. Und ehe sich die schweren Geschütze im Hinterland, die im Moment die britischen Stellungen mit Sperrfeuer belegten, sich auf ihn eingeschossen hatten, war er schon wieder vom Bahndamm herunter. Gleich war es soweit, jeden Moment mußten sie die Gleise erreichen. Barnes preßte das Auge auf das Periskop.
Die Panzerbesatzung bestand aus vier Männern. Panzersoldat Reynolds steuerte von seinem separaten Abteil im Bug den Panzer. Den beengten Raum im Turm teilte Barnes mit dem Kanonier Davis und seinem Richtschützen Corporal Penn. Der Geschützraum im Turm war gleichzeitig die Kommandozentrale und ragte über das Panzerchassis hinaus.
Die Bodenplatte, eine bewegliche Metallscheibe kaum ein paar Zentimeter über dem Boden, bildete mit dem Panzerturm eine Einheit. Vollführte der Turm auf seinem Drehkranz einen Schwenk, drehte sich das gesamte Abteil mitsamt den drei Männern, der Kanone und dem Maschinengewehr. Der Kanonier schwenkte nach Anweisung des Kommandanten den Turm auf der Traverse.
Sie waren jetzt dicht unterhalb des Bahndamms. Doch während das Periskop weiterhin lediglich den spärlichen Grasbewuchs des Dammes zeigte, brach draußen die Hölle los, ein Inferno des Lärms, das sich im Innern des Metallkolosses bis zur Unerträglichkeit verstärkte: Mörsergranaten rauschten heran und detonierten mit dumpfem Schlag, Granaten jaulten über die eigenen Stellungen, unaufhörlich krachten Gewehre, und dazwischen, wie zur Untermalung dieser tödlichen Symphonie, ertönte das Rattern von Maschinengewehren. Die Panzerbesatzung verstand Barnes’ Befehle nur über Interkom, ein Einwegsprechsystem, bestehend aus einem Mikrofon, das an einer Schnur um Barnes’ Hals baumelte und mit dem er seine Anweisungen in die Kopfhörer der Männer übermittelte.
Barnes kniff die Augen zusammen. Der Bahndamm verschwand aus dem Periskop. Sie waren oben. Der Sergeant hatte den Anblick, der sich ihm bot, erwartet, aber nicht damit gerechnet, daß der Feind so stark war. Lange Ketten deutscher Soldaten in Feldgrau, auf dem Kopf Stahlhelme, wogten heran wie die Wellen bei einlaufender Flut, rollten über eine weite Ebene auf den Bahndamm zu. Sie trugen Gewehre oder Maschinenpistolen, und einige Abteilungen waren mit leichten Maschinengewehren ausgerüstet. Der Panzer war genau in dem Augenblick auf
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