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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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nur strahlend lächeln gesehen hatte, die stets ein nettes Wort für jeden fand, wurde gallig und verbittert. Mehr und mehr erzählten ihre Briefe von ihrem Abscheu, wenn sie die Männer aus der Stadt sah, die hübsch sauber, ordentlich und ausgeschlafen in die Fabrik gingen. Sogar die Verwundeten aus dem Krankenhaus, die auf den Straßen herumlungerten, bekamen ihr Fett weg: Sie nannte sie «Glückspilze». Aber der Mann, der die Siegespalme einheimste, war meine We nigkeit. Es ließ mich nicht kalt, als ich den Brief las, in dem von mir die Rede war. Sie hatte ihn am Abend jenes Tages geschrieben, an dem ich sie auf dem Kamm der Anhöhe gesehen hatte.

    4. Juni 1915 Mein Geliebter,
    deine Briefe sind schon dünn wie Löschpapier, so oft falte ich sie auseinander und wieder zusammen, lese sie und vergieße Tränen auf sie. Ich leide, weißt du das? Die Zeit erscheint mir wie ein Ungeheuer, nur geboren, um Liebende zu trennen und unermesslich leiden zu lassen. Was haben diese Ehefrauen, die ich hier jeden Tag sehe, doch für ein Glück, denn sie sind von ihren Männern nur für einige Stunden getrennt. Auch diese Schulkinder haben Glück; ihre Väter sind immer in ihrer Nähe. Heute bin ich wie jeden Sonntag auf die Anhöhe gestiegen, um dir etwas näher zu sein. Ich ging den Weg, ohne etwas anderes zu sehen als deine Augen, ohne einen anderen Duft als deinen zu riechen. Dort oben trug der Wind den Lärm der Kanonen zu mir. Es donnerte, donnerte, donnerte. Ich habe geweint, weil ich dich in diesem Gewitter aus Eisen und Feuer wusste, dessen düstere Rauchsäulen und Blitze ich sehen konnte. Mein Geliebter, wo warst du? Wo bist du? Wie immer bin ich lange geblieben, konnte den Blick nicht von dem uner messlichen Feld des Leids lösen, auf dem du seit Monaten lebst.
    Plötzlich spürte ich, dass jemand hinter mir stand. Es war ein Mann, den ich vom Sehen kenne. Er ist Polizist, und ich habe mich immer gefragt, was er wohl in dieser kleinen Stadt zu tun hat. Er ist älter als du, aber noch jung. Er steht auf der richtigen Seite, der Seite der Feiglinge. Er starrte mich blöde an. In der Hand hielt er ein Gewehr, keins wie deins, das dazu da ist, Männer zu töten; nein, ich glaube, es war ein Jagdgewehr, ein lächerliches Bühnen- oder Kindergewehr. Er sah aus wie ein Narr im Theater. In diesem Augenblick habe ich ihn mehr gehasst als sonst jemanden auf der Welt. Er stammelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Ich habe ihm den Rücken zugedreht.
    Für ein paar Minuten in deinen Armen würde ich das Leben tausender Männer von seiner Sorte opfern. Ich würde ihnen persönlich den Kopf abschneiden, um deine Küsse auf meinem Mund zu spüren. Es stört mich nicht, dass ich hassenswert bin. Urteil und Moral der anderen sind mir einerlei. Ich würde töten, damit du am Leben bleibst. Ich hasse den Tod, weil er nicht wählerisch ist. Schreib mir, mein Geliebter, schreib. Jeder Tag ohne dich bedeutet bitteres Leid für mich ... Deine Lyse

    Ich war ihr nicht böse. Sie hatte nur allzu Recht. Ich war wirklich die Memme, für die sie mich hielt. Aber auch ich hätte getötet, damit Clémence am Leben blieb. Auch ich fand die Überlebenden hassenswert. Ich wette, dass der Staatsanwalt genauso dachte.

    Die Tage veränderten Lysia Verhareine, auch wenn wir nichts davon bemerkten. Das schöne, sanfte Mädchen verwandelte sich in einen Menschen, der gegen das allgemeine Schweigen anschrie und sich innerlich zerfleischte. Einen Menschen, der langsam verfiel. In einigen Briefen tadelte sie ihren Verlobten, warf ihm sein Schweigen, seine spärlichen Briefe vor, zweifelte an seiner Liebe. Aber schon am nächsten Tag entschuldigte sie sich wortreich. Er schrieb ihr trotzdem nicht öfter. Ich werde nie erfahren, zu welcher Sorte Bastien Francoeur gehörte: zu den Schweinen oder den Gerechten. Ich werde nie wissen, ob seine Augen leuchteten, während er einen Brief von Lysia las. Ich werde nie erfahren, ob er ihre Briefe im Schützengraben bei sich trug. Ich werde nie erfahren, ob er sie mit einem Ausdruck des Überdrusses oder der Belustigung überflog und dann zusammengeknüllt in eine Schlammpfütze warf.
    Der letzte Brief datierte vom 3. August 1917. Es war ein kurzer Brief, in dem sie in einfachen Worten von ihrer Liebe sprach, auch vom Sommer, von den langen, schönen Tagen, die dem, der allein ist und wartet, so leer erscheinen.
    Ich könnte ihn hier abschreiben, aber ich will nicht. Es reicht, dass Destinat und ich das Heft

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