Die Grenadière (German Edition)
zu verspüren, ohne die völlige Ruhe eines von ehrgeizigem Streben wie von Sorgen freien Lebens zu genießen. Die Luft und das Gemurmel der Wogen laden zur Träumerei ein; der Ufersand, der bald trübe, bald heiter, bald golden, bald matt erscheint, spricht zu einem; alles ist in Bewegung um den Besitzer dieses Weinguts herum, der selbst stillsitzt inmitten seiner lebenden Blumen und seiner leckeren Früchte. Ein Engländer zahlte tausend Franken für eine sechsmonatige Vermietung dieses bescheidenen Hauses, ohne Anspruch auf die Fruchterträge zu erheben, sonst erbot er sich das Doppelte zu zahlen, und wenn er auch die Weinernte für sich haben wollte, war er bereit, die Summe noch einmal zu verdoppeln. Wie hoch ist also der Wert der Grenadière mit ihrer Rampe, ihrem Hohlweg, ihrer dreifachen Terrasse, ihrer Balustraden mit den blühenden Rosenbüschen, ihrem alten Aufgang, ihrem Brunnen, ihrer wilden Klematis und ihren Bäumen aus aller Herren Länder? Man biete keinen Preis! Die Grenadière ist überhaupt nicht verkäuflich. Nachdem sie im Jahre 1690 erworben und von dem Vorbesitzer für vierzigtausend Franken hergegeben war mit demselben schmerzlichen Bedauern, mit dem ein Araber der Wüste sich von einem geliebten Rosse trennt, ist sie in derselben Familie verblieben, deren Stolz, deren erbliches Kleinod, deren »Regent« sie ist. Heißt aber mit dem Blick umfassen nicht auch besitzen? hat ein Dichter gesagt. Von ihr überblickt man drei Täler der Touraine und die Kathedrale, deren Filigranarbeit in der Luft zu hängen scheint. Kann man solche Schätze bezahlen? Kann man jemals die Gesundheit bezahlen, die man unter den Lindenbäumen wiedergewinnt?
Im Frühling eines der schönsten Jahre zur Zeit der Restauration kam eine Dame in Begleitung einer Kammerfrau und zweier Kinder, von denen das jüngere acht, das ältere dreizehn Jahr alt zu sein schien, nach Tours, um hier eine Wohnung zu suchen. Sie sah die Grenadière und mietete sie. Vielleicht wurde sie von der Entfernung, die sie von der Stadt trennte, dazu bestimmt, hier ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Der Salon diente ihr als Schlafzimmer; jedes der Kinder erhielt ein Zimmer im oberen Stockwerk, und die Kammerfrau schlief in einem kleinen Raum über der Küche. Das Speisezimmer wurde gemeinsames Wohnzimmer der Familie und Empfangsraum. Das Haus wurde sehr einfach aber geschmackvoll möbliert; nichts Überflüssiges und nichts, was nach Luxus schmeckte, war hier zu finden. Die von der fremden Dame ausgesuchten Möbel waren von Nußbaumholz ohne jede Verzierung. Die Sauberkeit und der Einklang des Innern und des Äußeren der Wohnung machten ihren ganzen Reiz aus.
Es war ziemlich schwierig, zu erfahren, ob Frau Willemsens (so nannte sich die Fremde) zur reichen Bürgerklasse oder zum hohen Adel gehöre oder zu gewissen zweifelhaften Klassen des weiblichen Geschlechts. Ihr bescheidenes Wesen gab Anlaß zu den widersprechendsten Vermutungen, aber ihr Auftreten unterstützte die ihr günstigen Urteile. Bald nach ihrer Ankunft in Saint-Cyr erregte ihr zurückhaltendes Benehmen das Interesse der müßigen Leute, die in der Provinz daran gewöhnt sind, alles sorgfältig auszuforschen, was aus dem engen Gesichtskreis, in dem sie leben, herauszutreten scheint. Frau Willemsens war eine ziemlich große, schlanke, zwar magere, aber entzückend gewachsene Dame. Sie hatte einen schönen Fuß, der mehr durch das graziöse Gelenk auffiel, als durch seine schmale Form, die ja ein ziemlich gewöhnlicher Vorzug ist; ihre Hand war auch im Handschuh schön. Manchmal färbte eine tiefe fliegende Röte die frische Farbe ihres weißen Teints kupferfarben. Frühzeitige Runzeln furchten ihre fein geformte Stirn, über der schöne kastanienbraune Haare, die hübsch ansetzten, stets in zwei Flechten um den Kopf gewunden waren und mit dieser Mädchenfrisur zu dem melancholischen Ausdruck ihres Gesichts paßten. Ihre schwarzen, mit breiten tiefen Ringen umgebenen Augen, in denen eine fieberhafte Glut schlummerte, täuschten eine unechte Ruhe vor, und manchmal, wenn der gewollte Ausdruck nachließ, spiegelte sich in ihnen eine heimliche Angst. Ihr ovales Gesicht war etwas länglich; vielleicht hatten einst Glück und Gesundheit es in richtigeren Verhältnissen erscheinen lassen. Ein gemachtes Lächeln, hinter dem eine traurige Milde versteckt war, irrte gewöhnlich über ihre blassen Lippen; trotzdem belebte sich der Ausdruck ihres Mundes, und ihr Lächeln drückte die Seligkeit
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