Die Grenadière (German Edition)
»nimm die kleine Brieftasche, du kennst sie ja, und komm her zu mir, mein liebes Kind.«
»Hier drin sind«, sagte sie, als Louis herangetreten war, »zwölftausend Franken. Ach, die gehören euch wirklich. Ihr würdet reicher gewesen sein, wenn euer Vater ...«
»Mein Vater?« rief das Kind. »Aber wo ist er denn?«
»Gestorben,« erwiderte sie und legte den Finger auf die Lippen, »gestorben, um meine Ehre und mein Leben zu retten.«
Sie erhob die Augen zum Himmel. Sie hätte geweint, wenn ihr Schmerz noch Tränen gehabt hätte.
»Louis,« begann sie dann wieder, »schwöre mir hier auf mein Kopfkissen, daß du alles was du geschrieben, und was ich dir gesagt habe, vergessen wirst.«
»Ja, Mutter.«
»Und nun umarme mich, mein geliebtes Kind.«
Sie schwieg eine ganze Weile, als wollte sie von Gott Mut erbitten und die Kraft, die ihr geblieben war, sammeln für das, was sie noch zu sagen hatte.
»Hör mir zu. Diese zwölftausend Franken sind euer ganzes Vermögen; du mußt sie an dich nehmen, weil, sobald ich tot bin, Leute vom Gericht kommen werden, um alles hier zu verschließen. Nichts wird euch mehr hier gehören, nicht einmal eure Mutter! Und euch, ihr armen Waisen, bleibt nichts mehr übrig, als fortzugehen, Gott weiß wohin. Für Fanny habe ich gesorgt. Sie erhält jährlich hundert Taler und wird gewiß in Tours bleiben. Aber was werdet ihr, du und dein Bruder, anfangen?«
Sie setzte sich auf und sah ihr mutiges Kind an, das, Schweiß auf der Stirn, bleich vor Erregung, die Augen halb von Tränen verschleiert, aufrecht vor ihrem Bette stand.
»Mutter,« sagte er mit seiner tiefen Stimme, »das habe ich mir schon überlegt. Ich werde Marie ins Gymnasium in Tours bringen. Zehntausend Franken werde ich der alten Fanny geben und ihr sagen, daß sie sie sicher aufbewahren und sie über meinen Bruder wachen soll. Mit den übrigen hundert Louisdors gehe ich nach Brest und werde Seekadett. Während der Schulzeit Maries werde ich Marineleutnant werden. Du kannst beruhigt sterben, Mutter! Ich werde reich werden, ich werde unsern Kleinen in die polytechnische Schule bringen und ihn dort entsprechend seinen Wünschen studieren lassen.«
Ein Freudenstrahl brach aus den halberloschenen Augen der Mutter, und zwei Tränen rannen über ihre glühenden Wangen hinab; dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus und wäre beinahe vor Freude darüber gestorben, daß sie die Seele des Vaters in dem Sohne wiederfand, der plötzlich ein Mann geworden war.
»Mein geliebter Engel,« sagte sie weinend, »alle meine Schmerzen hast du mit einem Worte weggewischt. Oh, jetzt kann ich alles ertragen! Das ist mein Sohn,« fuhr sie fort, »ich habe ihn zum Manne geformt und erzogen!«
Sie erhob ihre Hände und faltete sie, um ihre grenzenlose Freude auszudrücken; dann sank sie zurück.
»Liebe Mutter, du wirst so bleich«, rief das Kind.
»Man soll einen Priester holen«, antwortete sie mit ersterbender Stimme.
Louis weckte die alte Fanny, die ganz erschreckt nach dem Pfarrhause in Saint-Cyr lief.
Am Morgen empfing Frau Willemsens die Sterbesakramente; es war ein rührender Anblick. Ihre Kinder, Fanny, die Familie des Weinberghüters, einfache Leute, die schon mit zur Familie gerechnet wurden, waren niedergekniet. Das von einem bescheidenen Chorknaben – einem Chorknaben aus dem Dorfe! – getragene silberne Kreuz war vor dem Bette aufgerichtet, und ein alter Priester reichte der sterbenden Mutter die letzte Wegzehrung. Wegzehrung! Ein erhabenes Wort, und ein noch erhabenerer Begriff, den allein die Religion der apostolischen römischen Kirche kennt.
»Diese Frau hat viel gelitten!« sagte der alte Pfarrer in seiner einfachen Redeweise.
Frau Willemsens hörte ihn nicht mehr; aber ihre Augen blieben fest auf ihren beiden Kindern haften. Jeder hörte angstvoll inmitten der tiefsten Stille auf die Atemzüge der Sterbenden, die schon langsamer geworden waren. Dazwischen verriet ein schwerer Seufzer, daß noch Leben in ihr war, und daß sie den letzten Kampf kämpfte. Endlich hatte die Mutter aufgehört zu atmen. Alle brachen in Tränen aus, ausgenommen Marie. Das arme Kind war noch zu jung, um begreifen zu können, was der Tod bedeutet. Fanny und die Frau des Weinberghüters schlossen der entzückenden Frau, deren Schönheit jetzt wieder in ihrem vollen Glanze erschien, die Augen. Sie schickten alle anderen fort, entfernten die Möbel aus dem Zimmer, betteten die Tote, nachdem sie sie in das Leichentuch gehüllt hatten,
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