Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
I need underwear!«, erklärte Müller mit erhobenem Zeigefinger.
Der junge Mann nickte lächelnd: »Okay, okay!«, und gab Gas.
Müller setzte sich auf einen großen, gelben Sandstein, der auf dem Gehsteig neben dem zerstörten Tor lag, und zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise rauchte er nicht, aber Männer, die rauchten, signalisierten überall auf der Welt eine gewisse Sorglosigkeit. Nur deshalb trug er immer ein Päckchen in seiner Weste bei sich.
Erfahrungsgemäß war das Risiko, von dem jungen Taxifahrer betrogen zu werden, nahe null, richtige Kerle helfen einander. Und wo hundert US -Dollar riskiert wurden, um an lächerliche Billigkleidung zu gelangen, würde noch mehr zu holen sein.
Müller sah eindeutig europäisch aus wie all die unzähligen Journalisten, die auftragsgemäß zu beobachten hatten, wie Gaddafis Reich zerfiel. Er sah so aus wie all die Menschen ohne Namen, die im Laufe der Rebellion in diese Stadt gekommen waren und jetzt vom frühen Morgen bis spät in die Nacht irgendwelchen dunklen Aufträgen nachgingen, von denen sie so wenig wie möglich preisgaben. Irgendwann würden sie wieder verschwinden, und mit wenigen Ausnahmen würde sich kein Mensch an sie erinnern. Krise und Bürgerkrieg waren ihr Job.
Müller hatte einige CIA -Leute erkannt, ein paar Frauen und Männer des chinesischen Geheimdienstes, Männer des englischen MI6, Frauen und Männer des Geheimdienstes der Franzosen. Und zu seiner Erheiterung auch reichlich Personal des israelischen Mossad, das hastig irgendwelche Aufgaben hinter sich brachte, um bereits nach wenigen Stunden wieder ausgetauscht zu werden. Blitzschnell und ohne Spuren zu hinterlassen.
Einer von ihnen, ein schmaler Vierzigjähriger, war beim Frühstück hinter seinem Rücken vorbeigestrichen und hatte ihm leicht eine Hand auf die Schulter gelegt. »Mach deine Sache gut, Bruder!«, hatte er geflüstert.
»Wie immer«, hatte Müller geantwortet, und sie hatten beide gegrinst.
Müllers Haar war schütter, sandfarben, dünn, wahrscheinlich würde er spätestens mit fünfzig eine Glatze haben, jetzt war er vierundvierzig. Sein Gesicht war rundlich mit hellen grauen Augen und einem schmalen Mund. Er war knapp eins achtzig groß, schlank, körperlich in Höchstform, und er wirkte ungemein freundlich, wie alle Männer, die ein Kind liebevoll anschauen können. Müller hatte selbst ein Kind, und er wusste nicht, wie das Kind dachte und fühlte. Das machte ihn unsicher, manchmal muffig und wortlos. Er war nicht fähig, darüber zu reden, und gelegentlich kam es vor, dass er seinen Beruf dafür verantwortlich machte. Gleichzeitig wusste er, dass es ganz so einfach nicht war. Es war wohl so, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er heiratete und Vater wurde. Für Agenten war ein bürgerliches Leben nicht geeignet. In ihrer Welt gab es einfach keinen Raum für herkömmliche Lebensweisen. Seine Tochter war jetzt zehn, und es bedrückte ihn, dass er so gut wie nichts von ihr wusste, nichts von ihrem Leben, nichts von ihren Wünschen, nichts von ihren Träumen. Er nannte ihre Mutter nur »meine Ex«, und auch von deren Leben wusste er sehr wenig. Selbst die Tatsache, dass er brav für dieses Kind bezahlte, machte die Sache nicht besser.
Er hatte viele Jahre in dem steten Bemühen verbracht, ungeheuer durchschnittlich und langweilig zu wirken, und die meisten Menschen, denen er begegnete, vergaßen ihn auch sofort wieder. Er war nichts als ein freundlicher, farbloser Mann.
Das Libyen dieser atemlosen Tage war ein Land der steinernen Gesichter, und noch herrschte Krieg. Niemand hier wusste, was morgen sein würde. Falls eine Stadt für Müller genau richtig war, so war es diese hier – Tripolis.
Der Taxifahrer kam nach einer guten halben Stunde zurück. Er rumpelte der Einfachheit halber mit seinem alten Toyota gleich auf den Gehsteig. Als er Müller drei sandfarbene Leinenhosen, drei T-Shirts in Militärgrün und zwei Garnituren Unterwäsche durch das heruntergekurbelte Fenster reichte, sagte er: »You can do it in my car!«
»Nein, nein, lass mal«, winkte Müller ab, »ich stinke wie der Teufel.« Er verschwand lieber hinter dem Tor und zog sich dort rasch um. Die Hosen waren etwas zu lang, er krempelte sie hoch. Die verdreckte und stinkende Kleidung ließ er einfach liegen. Nur die Weste nahm er mit. Sie war das Kleidungsstück, auf das er nicht verzichten konnte. Darin steckten drei sehr spezielle Handys, ein Satz Papiere, etwas Kleingeld, eingenäht
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