Die Günstlinge der Unterwelt - 5
aufwendig, wie jene der Entdeckung unserer ›Leichname‹, aber notwendig. Und du hast deine Sache gut gemacht und sie gefunden.
Verna spürte, wie sie errötete. Sie war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, der Angelegenheit der bereits vorbereiteten und in Leichentücher gehüllten Leichname nachzugehen. Dieser Hinweis war ihr vollkommen entgangen.
Ich muß jedoch gestehen , fuhr Ann fort, daß ich mir so gut wie nie die Mühe gemacht habe, Berichte zu lesen. Dafür sind die Helferinnen da. Ich erklärte ihnen einfach, sie sollten von ihrem Urteilsvermögen und ihrer Klugheit Gebrauch machen und die in den Berichten behandelten Angelegenheiten in Übereinstimmung mit dem größtmöglichen Nutzen für den Palast bearbeiten. Ab und an blieb ich dann vor ihnen stehen und zog irgendeinen Bericht hervor, an dem sie gearbeitet hatten, und las ihre Entscheidung. Ich sorgte stets dafür, daß sie ihre Arbeit gewissenhaft verrichteten – indem ich die Angst schürte, ich könnte die Anweisungen lesen, die sie in meinem Namen gegeben hatten, und sie unzureichend finden.
Verna war verblüfft. Soll das heißen, ich kann meinen Helferinnen oder Beraterinnen einfach sagen, wie ich die Dinge geregelt haben möchte, und ihnen dann die Berichte zur Bearbeitung geben? Ich brauche sie nicht alle zu lesen? Ich muß sie nicht alle abzeichnen?
Verna, du bist die Prälatin. Du kannst tun, was immer dir beliebt. Du bestimmst die Geschicke des Palastes, nicht umgekehrt.
Aber die Schwestern Leoma und Philippa, meine Beraterinnen, und Schwester Dulcinia, eine meiner Verwalterinnen, erzählen mir ständig, wie es gemacht werden muß. Sie sind so viel erfahrener als ich. Sie geben mir das Gefühl, ich würde den Palast vernachlässigen, wenn ich mich nicht persönlich um die Berichte kümmere.
Das tun sie, ja? schrieb Ann fast augenblicklich. Oh, oh. Ich glaube, wäre ich an deiner Stelle, Verna, ich würde ein bißchen weniger zuhören und selbst ein wenig mehr reden. Du verfügst über einen finsteren Blick. Setze ihn ein.
Verna mußte schmunzeln, als sie das hörte. Sie sah die Szene bereits vor sich. Gleich morgen früh würde es im Büro der Prälatin ein paar Änderungen geben.
Was ist Eure Mission, Ann? Was versucht Ihr zu erreichen?
Ich habe eine Kleinigkeit in Aydindril zu erledigen, dann hoffe ich zurückzukehren.
Ann wollte es ihr ganz offensichtlich nicht verraten, also überlegte Verna sich etwas anderes, was sie wissen wollte und was sie der Prälatin sagen mußte. Ihr fiel eine wichtige Sache ein.
Warren hat eine Prophezeiung abgegeben. Seine erste, wie er sagt.
Es folgte eine lange Pause. Verna wartete. Als die Nachricht schließlich eintraf, war die Schrift ein wenig sorgfältiger.
Kannst du dich noch Wort für Wort an sie erinnern?
Verna konnte unmöglich auch nur ein Wort dieser Prophezeiung vergessen. Ja.
Bevor Verna damit beginnen konnte, die Prophezeiung aufzuschreiben, wurde plötzlich eine Nachricht quer über die Seite gekritzelt. Das Gekrakel war riesengroß und wütend, der Text in großen Blockbuchstaben.
Schaff diesen Jungen aus dem Palast! Schaff ihn raus!
Eine Linie schlängelte sich über die Seite. Verna setzte sich aufrecht hin. Offensichtlich hatte Nathan Ann den Stift aus der Hand gerissen und die Nachricht hingeschrieben, und Ann war gerade dabei, ihn sich zurückzuholen. Es gab abermals eine lange Pause, und schließlich erschien wieder Anns Handschrift.
Entschuldige, Verna, wenn du sicher bist, daß du dich Wort für Wort an die Prophezeiung erinnerst, dann schreibe sie auf, damit wir sie sehen können. Wenn du dir über irgend etwas unsicher bist, sag es mir. Es ist wichtig.
Ich erinnere mich Wort für Wort an sie, da sie sich auf mich bezieht, schrieb Verna. Dort heißt es:
»Wenn die Prälatin und der Prophet im heiligen Ritual dem Licht übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die über den Untergang des Palastes der Propheten herrschen wird. Im Norden wird der, der im Bunde mit der Klinge steht, auf diese zugunsten der Silbernen Sliph verzichten, denn er wird sie wieder zum Leben erwecken, und sie wird ihn in die Arme des Unheils treiben.«
Wieder folgte eine Pause. Warte bitte, bis Nathan und ich uns das genau angesehen haben.
Verna saß da und wartete. Draußen zirpten die Käfer, quakten die Frösche. Verna stand auf, wobei sie stets ein Auge auf das Buch hielt, streckte sich
Weitere Kostenlose Bücher