Die Günstlinge der Unterwelt - 5
an etwas erinnert, fuhr er sich mit den Fingern über den Hals, über die Stelle, wo den größten Teil seines bisherigen Lebens der Halsring gesessen hatte. »Jung für die, die unter dem Bann des Palastes leben, vielleicht, aber wohl kaum für die Menschen in der Welt draußen – ich bin einhundertundsiebenundfünfzig, Schwester. Aber ich weiß es zu schätzen, daß Ihr mir den Halsring abgenommen habt.« Er löste seine Finger vom Hals und strich eine Strähne blondgelockten Haars zurück. »Es scheint, als sei die ganze Welt in den letzten paar Monaten auf den Kopf gestellt worden.«
Sie lachte stillvergnügt in sich hinein. »Ich vermisse Richard auch.« Ein unbeschwertes Lächeln hellte seine Miene auf. »Wirklich? Es gibt nicht viele wie ihn, oder? Ich kann kaum glauben, daß es ihm gelungen ist, den Hüter daran zu hindern, aus der Unterwelt zu entkommen. Aber ganz sicher hat er den Geist seines Vaters aufgehalten und den Stein der Tränen an seinen rechtmäßigen Ort zurückgebracht, denn sonst wären wir alle von den Toten verschlungen worden. Um die Wahrheit zu sagen, ich war die ganze Wintersonnenwende über in kalten Schweiß gebadet.«
Schwester Verna nickte, so als wollte sie ihre Lauterkeit damit noch unterstreichen. »Offenbar sind die Dinge, die du geholfen hast ihm beizubringen, von Nutzen gewesen. Du hast deine Sache gut gemacht, Warren.« Sie betrachtete einen Augenblick lang prüfend sein sanftes Lächeln, dabei fiel ihr auf, wie wenig es sich über die Jahre verändert hatte. »Ich bin froh, daß du dich entschieden hast, noch eine Weile im Palast zu bleiben, obwohl man dir den Halsring abgenommen hat. So wie es aussieht, haben wir keinen Propheten.«
Er sah zu den Überresten des Feuers hinüber. »Den größten Teil meines Lebens habe ich in den Gewölben die Prophezeiungen studiert, und die ganze Zeit über wußte ich nicht, daß einige von einem lebenden Propheten oder gar von einem aus dem Palast selbst stammten. Ich wünschte, man hätte es mir gesagt. Ich wünschte, sie hätten mich mit ihm sprechen, mich etwas von ihm lernen lassen. Jetzt ist die Gelegenheit vertan.«
»Nathan war ein gefährlicher Mann, ein rätselhafter Mann, den keine von uns je voll verstehen, dem keine trauen konnte. Aber vielleicht war es falsch, dich daran zu hindern, ihn aufzusuchen. Du solltest wissen, daß die Schwestern es dir mit der Zeit, sobald du mehr Erfahrung gehabt hättest, erlaubt, wenn nicht sogar von dir verlangt hätten.«
Er sah zur Seite. »Aber jetzt ist die Gelegenheit vertan.«
»Warren, ich weiß, jetzt, da man dir den Halsring abgenommen hat, kannst du es kaum erwarten, hinaus in die Welt zu ziehen. Aber du hast gesagt, du hättest die Absicht, im Palast zu bleiben, wenigstens für eine Weile, um zu studieren. Im Augenblick ist der Palast ohne Propheten. Ich glaube, du solltest der Tatsache Rechnung tragen, daß deine Gabe sich auf diesem Gebiet sehr deutlich offenbart. Du könntest eines Tages ein Prophet werden.«
Ein sanfter Wind fuhr in seine Kleider, als er über die grünen Hügel hinüber zum Palast blickte. »Nicht nur meine Gabe, auch meine Interessen, meine Hoffnungen, hatten immer mit den Prophezeiungen zu tun. Erst in letzter Zeit habe ich angefangen, sie auf eine Weise zu verstehen wie niemand sonst, doch Prophezeiungen zu verstehen ist etwas anderes, als sie selbst zu machen.«
»Das braucht Zeit, Warren. Nun gut, als Nathan in deinem Alter war, war er bestimmt, was Prophezeiungen betrifft, nicht weiter fortgeschritten als du. Würdest du im Palast bleiben und deine Studien fortsetzen, ich bin sicher, in vier- oder fünfhundert Jahren könntest du ein ebenso großer Prophet sein wie Nathan.«
Eine ganze Weile erwiderte er nichts. »Aber dort draußen wartet eine ganze Welt. Ich habe gehört, in der Burg der Zauberer in Aydindril gibt es wichtige Bücher, und an anderen Orten auch. Richard meinte, im Palast des Volkes in D’Hara gebe es bestimmt jede Menge. Ich möchte lernen, und es gibt vieles zu lernen, was man hier jedoch nicht finden kann.«
Schwester Verna bewegte die Schultern hin und her, um die Schmerzen etwas zu lindern. »Der Palast der Propheten steht unter einem Bann, Warren. Wenn du ihn verläßt, wirst du genauso altern wie die Menschen draußen. Sieh doch, was aus mir in den kaum zwanzig Jahren geworden ist, in denen ich fort war. Obwohl wir nur ein Jahr auseinander geboren wurden, siehst du noch immer so aus, als solltest du an Heirat denken, und
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