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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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den Blick auf das Blatt in ihren Händen richtete, um wie sine Mutter den gespannt zuhörenden Kindern vorzulesen.
    Es ist das Bild eines weißen Hauses. Eines großen Hauses, umstanden von Buchen und Ulmen. Ein rotes Ziegeldach. Man sieht das Haus von oben, deutlich sind die weißen Mauern in einem hellen, klaren Sommerlicht zu erkennen. Es ist eine Luftaufnahme, bestellt von einem stolzen Hausbesitzer. Auf dem Platz vor dem Haus hält ein schwarzer Ford-Kastenwagen. Es ist das einzige Auto, aber auf einem angrenzenden Feld zieht ein Pferdegespann einen Mähbinder. So wenige Jahre nach dem Krieg ist Dänemark noch immer ein Land, das von Pferden gezogen wird, Traktoren sind noch nicht üblich. Es muß August sein. Man kann fühlen und sehen, daß die Sonne scheint. Das Stückchen Himmel auf dem Foto ist blau. Die Farben sind noch immer kräftig, obwohl die vielen Jahre sie verfärbt und ihnen eine Patina verliehen haben, die zu der genügsamen Zeit damals paßt. Hinter dem Haus liegt ein großer Garten. In dem Garten scheinen Obstbäume zu stehen, er ist von einer grünen, sorgsam geschnittenen Hecke umgeben. Fünf Menschen sind auf dem Bild, das übrigens eingerahmt ist wie ein Ölgemälde. Ein Mann und eine Frau. Der Mann ist in Weiß gekleidet und trägt eine hohe Bäckermütze. Die Frau hat ein geblümtes Kleid an und hat die Arme gekreuzt. Ihr schwarzes Haar funkelt in der Sonne. Der Mann und die Frau wenden ihr Gesicht dem Fotografen im Flugzeug zu. Darauf haben sie lange gewartet, daß er ihr Haus überfliegen werde, das sie stolz in Besitz genommen haben. Hinter ihnen steht ein mittelgroßer Junge. Auch er trägt weiße Bäckerkleidung, aber keine Mütze. Neben ihm steht ein fast gleichaltriges Mädchen in einem hellen Kleid. Sie hat nackte Arme und lange, dunkle Zöpfe. Sie sehen sich ähnlich, sie sind Geschwister. Sie schauen zu dem Flugzeug hinauf, das über ihren Köpfen schwebt. Man kann beinahe ihre Gesichtszüge erkennen, so scharf ist die Luftaufnahme. Es ist noch ein kleiner Junge auf dem Bild. Er steht neben der Mutter und winkt zu dem Flugzeug hinauf. Er hat einen fast weißen Lockenkopf, und man kann seine nackten Knie in der kurzen Hose erkennen. Es ist ein sehr dänisches Bild. Ein Bild, das Traulichkeit und Sicherheit ausstrahlt. Ein Bild, das sagt, daß die guten Zeiten nicht mehr weit sind. Der Kleine auf dem Bild bin ich. Es ist das einzige Foto, das von meinem ersten Elternhaus existiert, und hätte ich es nicht in meinem Besitz, hätte ich an das weiße Haus keine Erinnerung mehr. Ich war knapp vier, als das Foto in einem Anfall von Hybris in Auftrag gegeben wurde. Im Winter darauf mußte mein Vater das Licht löschen und die Bäckerei schließen, als nämlich die Sache herauskam und die Leute von seiner Vergangenheit erfuhren. Das wurde mir erzählt, erinnern tue ich mich nicht daran. Ich erinnere mich nur an den Geruch des Mehls und das Pfeifen des Fahrers, wenn er aus dem Bäckerwagen sprang, um einem Kunden ein Weißbrot zu bringen. Oder ab und zu an den kräftigen Duft von Gebratenem, Ente oder Gans, die mein Vater zu Sankt Martin oder am Weihnachtsabend in den großen schwarzen Ofen schob, wenn das Dorf den Weihnachtsbraten zum Bäcker brachte, weil die fetten Feiertagsvögel nicht in die kleinen Kohle- oder Koksöfen paßten. Sonst ist alles dunkel, und klarere Erinnerungen habe ich erst wieder an die Zeit nach unserem Umzug in die Provinzstadt in Jütland. Mein Vater gehörte nicht länger zu unserem Leben. Im allgemeinen sind meine Vorstellungen von ihm nebulös. Und ich weiß nicht, ob ich das, woran ich mich erinnere, selber erlebt habe oder ob es aus Anekdoten oder von den paar Bildern der Familie stammt. Er verließ die Familie aus Scham darüber, sie nicht mehr ordentlich versorgen zu können, und starb, so sagt die Legende, zwei Jahre später in einer Hamburger Kneipe. Die Vergangenheit aber starb nicht mit ihm. Sie lebte und zog ihre Fäden bis ans Ende des Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, das nicht anders als das Jahrhundert der Opfer genannt werden kann. Aber war er Opfer oder Henker? Oder beides? Damit mußte sich die Familie in den Jahren danach herumschlagen. Es ging mich im großen und ganzen nichts an, aber das Leben der beiden anderen Kinder wurde dadurch auf ganz entscheidende Weise beeinflußt. Es wurde das wahre Geheimnis ihres Lebens, das beflissener gehütet wurde als die geheimste Liebesaffäre. Während Dänemark modern wurde und die meisten einfach

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