Die guten Schwestern
vergaßen, hielten manche ihre Erinnerungen so intensiv wach, daß sie schließlich innerlich von ihnen aufgefressen wurden.
»Wer bin ich?« würde Vuldom dann mit ihrer ruhigen, etwas rauchigen und oft ziemlich erotischen Stimme fragen.
Wer bin ich in der Geschichte? Wer ist das Ich in jeder Geschichte?
Darüber könnten sie in der Kaffeepause nachdenken.
ERSTER TEIL
Teddys akademisches Leben
Oh, sister, when I come to lie in your arms,
You should not treat me like a stranger.
Our Father would not like the way that you act,
And you must realize
The danger.
Oh, sister, am I not a brother to you
And one deserving of affection?
Bob Dylan
1
I ch hatte die Frau schon in Warschau bemerkt, sie tauchte noch bei einigen Versammlungen in Prag auf, aber erst in Preßburg gab sie sich zu erkennen, und die Begegnung mit ihr ist wohl ein ebenso guter Anfang meiner Geschichte wie jeder andere auch. Sie stand mit ihrem verblüffenden Geheimnis in der Tür, der Zeitpunkt war ungünstig, mein Körper mußte ein Übermaß an Alkohol verarbeiten, und Selbstmitleid erfüllte mein Gemüt.
Ich hatte mich vollaufen lassen, und wenn ich das tat, vermißte ich die Sowjetunion so schmerzhaft wie ein verschmähter Liebhaber seine treulose Geliebte. Im Grunde trank ich ja auch nicht mehr so viel und war tatsächlich selten betrunken. Teils weil es mir kein Vergnügen bereitete, Alkohol machte mich meistens müde. Teils weil ich nach dem vierten Whisky oft an meine dritte Frau denken mußte, und dann kriegte ich Depressionen, weil ich sie auf meine ungeschickte Weise eigentlich liebte, aber ich hatte Angst, daß sie mir gerade entglitt. Ich gehöre einer Generation an, die genausoleicht ich sagt, wie die Eltern das diskrete man benutzten, und ich lebe vom Analysieren, und trotzdem konnte ich in diesem kalten Kriegsfrühling im letzten Jahr des Jahrtausends partout nicht herausfinden, warum ich mich immer öfter dabei ertappte, eifersüchtig zu sein und Angst zu haben, sie zu verlieren. Und das Analysieren ist wichtig für mich. Abgesehen davon, daß es mein Lebensunterhalt ist, unterscheidet uns die Fähigkeit zu analysieren, Zusammenhänge zu erkennen grundlegend von den Tieren.
Und wenn ich ehrlich sein soll, und warum sollte ich das jetzt nicht, dann unterscheidet ebenjene Fähigkeit zu Reflexion und Analyse die Intellektuellen von allen andern, die das Leben einfach laufenlassen anstatt zu agieren. Im letzten Frühjahr meiner Arroganz verstand ich mich selbst als einen Mann, der in allen Phasen seines Lebens aufrichtig wünschte, würdevoll und doch mit Strenge aufzutreten. So habe ich mich eigentlich immer gesehen. Ein Mensch, der das Dasein im Griff hat. Sowohl das berufliche als auch das private, obwohl beides, nüchtern betrachtet, ein großes Durcheinander ist. Ich sah mich gern lässig, aber gut gekleidet. Die Bügelfalten – auch die imaginären – sollten, ohne beherrschend zu sein, doch da sein. Beide Arten von Bügelfalten knitterten im Laufe der Zeit immer mehr. Es ist nur menschlich, dieses Talent, sich selbst zu betrügen und in falschem Licht zu sehen. Zuviel Selbsterkenntnis kann zum Selbstmord führen. Und eine andere ärgerliche Nebenwirkung übermäßigen Trinkens war, daß ich mich ganz einfach schnell bekleckerte und mein Leben furchtbar chaotisch wurde. Ich hatte nicht betrunken sein wollen, und den Zusammenbruch der SU hatte ich eigentlich auch nicht gewollt, und auf irgendeine Weise hingen die beiden Dinge zusammen.
Um es frei heraus zu sagen: Ich lag angezogen im Bett eines langweiligen, modernen Hotels in Preßburg in Europas jüngstem Staat, der Slowakei, und vermißte den kalten Krieg und das große Imperium. Ich vermißte die schönen alten Wörter: Politbüro, Zentralkomitee, Satellitenstaaten, Eiserner Vorhang, Ost-West, Aufrüstung, Mittelstreckenraketen, Gipfeltreffen, Berliner Mauer. Ich vermißte es, einer der wenigen zu sein, die die Prawda zwischen den Zeilen lesen konnten und deswegen ins Fernsehen eingeladen wurden. Ich vermißte Hammer und Sichel, die Pflastersteine auf dem Roten Platz, als der Kreml noch ein Machtzentrum war, und sehnte mich nach dem Schnee auf den zugefrorenen Kanälen einer schönen, baufälligen Stadt, die einmal Leningrad hieß. Als das Leben noch aus großen, existentiellen Fragen bestand und nicht so war wie jetzt, wo die drei wichtigsten Themen in den Medien und meinem Bekanntenkreis mittlerweile Vorruhestandsregelung, private Altersvorsorge
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