Totgelesen (German Edition)
Montag, 22. Februar, 07:30 Uhr
Sie oder keine. Sie war die Frau, nach der er gesucht hatte, groß, jung, blond. Ihr Auftauchen gab ihm die Gewissheit:
Heute war es soweit, heute würde jemand sterben.
Bereits als ihr Twingo auf dem Parkplatz der Anhöhe ankam und die aufgehende Sonne den See rot-orange leuchten ließ, wusste er, dass in diesem Wagen eine Frau saß. Allerdings bestand noch immer die Gefahr, dass sie nicht allein unterwegs war.
Das Knallen der Autotür zerriss die Stille und ließ seinen Atem stocken. Penibel zählte er die Sekunden bis er sicher sein konnte, dass alle Insassen ausgestiegen waren.
Ohne sich umzudrehen stand er auf dem Steg und beobachtete die Enten. Eine nachvollziehbare Beschäftigung während des Wartens, fand er, und starrte auf das Wasser, als ob es ihm egal wäre, wer aus dem Auto stieg. Als er die Spannung nicht mehr aushielt, drehte er sich um und sah sie zum ersten Mal.
Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz raste, seine Hände schwitzten. Jemand in seiner Nähe atmete laut wie ein gehetztes Tier. Blitzschnell drehte er sich um. Nichts! Das Schnaufen kam von ihm selbst. Er war nervös, zu nervös. Er musste sich zusammennehmen, um diese perfekte Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Er zwang sich, tief durchzuatmen und gewann mit jedem Atemzug sein Selbstvertrauen zurück. Mit jedem Luftzug, der seine Lunge verließ, schwanden seine Ängste. Er musste und würde es schaffen.
Dunstschleier zogen über den See, dessen Eisschicht in der Wärme der letzten Wochen nahezu geschmolzen war. Doch heute war es kalt, eiskalt. Das Gras, hart vom Reif, knirschte bei jedem Schritt. Für die meisten Ausflügler oder Läufer war es heute zu frostig. Für sie nicht.
Der abgetragene Trainingsanzug und die verschlissenen Turnschuhe zeigten, dass sie nicht wegen einer Verabredung herkam, sondern um zu trainieren. Nach wenigen Dehnungsübungen rannte sie kraftvoll davon, woraus er schloss, dass sie den See zügig umrunden würde.
Er ließ sich Zeit. Nach außen wirkte er ruhig und gelassen, innerlich fieberte er vor Aufregung. Er musste ihr Zeit geben, sie in Sicherheit wiegen. Keinesfalls durfte sie auf den Mann am Steg aufmerksam werden und in ihm eine Gefahr vermuten.
Erneut atmete er tief durch.
Nachdem die ersten Meter hinter ihr lagen, begann auch er seine Muskeln aufzuwärmen. Unkonzentriert zog er einen Fuß nach dem anderen hoch. Mechanisch wiederholte er die Übung, ohne die Frau aus den Augen zu verlieren.
Seine Konzentration galt ausschließlich ihr - und ihre galt sich selbst. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Mann, der sie beobachtete, fiel ihr nicht auf.
Er beendete seine Aufwärmübungen, um dann in die Gegenrichtung zu laufen. Durch sein rasches Tempo entfernten sie sich immer weiter voneinander.
Mit jedem seiner Schritte sank seine Anspannung. Zwar schwirrten noch immer wirre Gedanken durch seinen Kopf, aber sein Körper bündelte seine Kräfte auf das Wesentliche: Das Laufen.
Er umrundete den See von der nördlichen, sie von der südlichen Seite aus. Die ehemalige Schottergrube, die sich inzwischen zu einem beliebten Ausflugsziel etabliert hatte, war wie geschaffen für sein Vorhaben. Der Weg, der um den See führte, wurde von Spaziergängern, aber auch von Joggern genutzt. Eine Runde, die um den öffentlichen Teil des Sees und den Privatstrand führte, betrug etwa vier Kilometer, eine Brücke teilte die beiden Strände und verkürzte die Laufstrecke.
Im Sommer diente der See zum Baden, deshalb war das Hangufer auf der südlichen Seite kaum bepflanzt. Gras lud die Sonnenanbeter ein, es sich bequem zu machen. Die Seerunde führte mittig durch diese Graslandschaft zum südöstlichen Parkplatz.
Der nördliche Uferweg wurde von kleinen Baumgruppen und dichtem Gebüsch gesäumt. Der Wiesenabschnitt auf dieser Seite des Sees war schmal und kaum breit genug, um sich darauf hinzulegen. Außerdem gelangte man von dieser Seite aus zu einem kaum genutzten Campingplatz. Die nördliche Seite bot einen ungehinderten Blick auf das gegenüberliegende Ufer, sodass er ihre Schritte verfolgen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Dennoch war er vorsichtig.
Noch bevor er am Morgen fähig gewesen war, seine Augen zu öffnen, fühlte er es bereits: Heute war der Tag .
Die ganze Nacht hatten ihn seine immer wiederkehrenden Albträume geplagt. Er wusste, dass er diese nur loswerden konnte, wenn er jetzt konsequent blieb. Er musste es tun, ohne
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