Die Hassliste: Roman (German Edition)
ich
war
. Und auch, wer ich in Zukunft sein würde.
Mrs Tate öffnete einen Schrank und zog einen dicken Stapel Broschüren heraus. »Ich kann dir gar nicht sagen, Valerie, wie stolz ich bin, das zu hören«, sagte sie strahlend. »Hier. Du hast einiges zur Auswahl. Und du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du noch Fragen hast oder dir unsicher bist, wie du dich entscheiden sollst.«
Sie reichte mir die Broschüren über den Tisch und ich beugte mich vor, um sie zu nehmen. Sie lagen schwer in meiner Hand. Das gefiel mir. Endlich fühlte sich die Zukunft einmal schwerer an als die Vergangenheit.
VIERTER TEIL
»Ach! wer steht ein für diese blut’ge Tat?«
SHAKESPEARE
Es wäre gelogen, wenn ich behaupten
würde, dass mich die Fernsehkameras nicht nervös machten. Es waren so viele. Wir hatten große Resonanz erwartet – aber gleich dieses Aufgebot? Ich merkte, wie mein Hals bei dem Versuch zu sprechen trocken und kratzig wurde.
Es war heiß dafür, dass es erst Mai war, und der feierliche Talar blieb bei jedem Windstoß an meinen Beinen kleben. Die Abschlussfeier fand wie immer draußen statt, auf der endlos großen Wiese an der Ostseite der Schule. Die Schulverwaltung hatte schon öfter angekündigt, dass die Feier wegen steigender Schülerzahlen und dem unzuverlässigen Wetter hier im Mittleren Westen eines Tages wohl in einen großen Festsaal verlegt würde. Heute aber nicht. Heute folgten wir der Tradition. Das immerhin war möglich für die leidgeprüfte Abschlussklasse von 2009. Traditionen waren wichtig für uns.
Ich konnte meine Familie sehen – Frankie saß zwischen Mom und Dad, ziemlich weit hinten an der Seite. Links von Dad saß Briley.
Mom hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck und warf den Kameraleuten unentwegt böse Blicke zu. Auf einmal war ich ihr unendlich dankbar, dass sie es irgendwie geschafft hatte, die Kameras während dieser ganzen Geschichte von mir fernzuhalten. Die einzige Person von der Presse, mit der ich geredet hatte, war Angela Dash gewesen, und die hatte ich selbst in ihrem Büro aufgesucht. Es erschütterte mich, als ich begriff, dass Mom, trotz all der Anschuldigungen und trotz ihres Misstrauens mir gegenüber im letzten Jahr, nicht nur versucht hatte, den Rest der Welt vor mir zu beschützen – sie hatte auch mich vor der Welt beschützt. Obwohl manches schwierig war zwischen uns, lag doch allem eine Liebe zugrunde, auf die ich mich verlassen konnte und die mir immer eine Heimat sein würde.
Dad fühlte sich ganz offensichtlich sehr unwohl zwischen Mom und Briley, aber wenn sich unsere Augen fanden, glitt ein Hauch von Erleichterung über sein Gesicht. Diese Erleichterung war echt, das konnte ich sehen. Seine Augen waren voller Hoffnung und ich wusste – oder war mir jedenfalls ziemlich sicher –, dass wir einander trotz allem, was zwischen uns passiert war, irgendwann würden verzeihen können. Auch wenn wir es sicher niemals vergessen würden. Es brauchte nur Zeit.
Ab und zu beugte sich Briley zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das ihn zum Lächeln brachte. Ich wünschte mir, Mel wäre mit Mom hergekommen. Dann hätte auch sie Grund zum Lächeln.
Frankie wirkte gelangweilt, aber ich hatte den Verdacht, dass er nur so tat. Nächstes Jahr würde er die Gänge der Garvin-Highschool erkunden, würde sich unter denwachsamen Blicken von Mr Angerson wegducken und über die Unordnung in Mrs Tates Büro staunen, die erschütternd und behaglich zugleich war. Ich war mir ziemlich sicher, dass Frankie alles in allem gut klarkäme. Trotz allem würde es hier okay sein für ihn.
Dr. Hieler war auch gekommen. Er saß eine Reihe hinter Mom und Dad und hatte den Arm um seine Frau gelegt. Sie sah überhaupt nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war weder schön noch glamourös. Es lag auch keine madonnenhafte Geduld und Anmut in ihrem Gesicht. Sie guckte dauernd auf die Uhr, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und einmal schnauzte sie auch irgendwas in ihr Handy. Meine Version von ihr gefiel mir besser. Ich wollte einfach daran glauben, dass solche Familien, wie ich sie Dr. Hieler angedichtet hatte, wirklich existierten. Vor allem für ihn.
Hinter Dr. Hieler gab es einen dicken Klecks Purpur. Dort saß Bea, die sich die Haare hochgesteckt und sie mit so vielen purpurfarbenen Kugeln geschmückt hatte, dass sie wahrscheinlich bei jeder Bewegung leise klingelte. Sie trug ein wehendes purpurfarbenes Kostüm und hielt
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